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EIN DUTZEND KREBSE

Es war ein feines Lokal an der Alster und es
saßen feine Leute darin.

Während wir die Speisekarte nach einem mar-
kenfreien Gericht absuchten, beugte sich der
grauhaarige Kellner vertrauenerweckend zu uns
nieder und flüsterte mit bedeutsam hochgezoge-
nen Augenbrauen: „Sie können auch Krebse
haben — das Dutzend dreißig Mark." Ein ein-
maliges, hinreißendes, ausschließlich an uns ge-
richtetes Angebot, so schien es. Auf unsern Zun-
gen stellte sich unverzüglich der leise Geschmack
vor Jahrzehnten gegessener Hummern und Lan-
gusten ein, das kühle Oel einer jenseitigen
Mayonnaise schmierte mit visionärer Kraft unsere
ausgedörrten Kehlen, wir hörten butterbestriche-
nes Röstbrot zwischen unsern Zähnen krachen
und sagten dann, ein paar kleine kalte Schweiß-
tropfen des Entsetzens über unsern Mut noch um
die Nasenflügel: ja, wir wollten die Krebse haben.
Die seit Wochen verabreichten Häufchen grauer
wässriger Grütze mit geheimnisvoll roten und
gelben Fischpasten hatten uns seit langem in jene
erst sanfte, dann seegangartige Schwingung des
Hungers versetzt, in der man schaukelnden
Schrittes und schwankenden Gemütes Dinge tut,
die man nicht verantworten kann. Aber wir
waren nicht die einzigen. Das ganze feine Lokal
schien die Hungerschwankung mitzumachen und
dem diskreten suggestiven Krebs-Geflüster grau-
haariger Kellner erlegen zu sein.
Mit einem Schlag tauchten auf allen Tischen
Schüsseln auf. Darin schwammen in grünlicher
Dillsoße knallrote, eisenharte, kleine Gegen-
stände, zu deren Bewältigung jedem ausschließ-
lich zwei schlichte Gabeln und — ahnungsvoll —
eine halbe Papierserviette ausgehändigt wurden.
Krebsbesteck, leider, besitze man nicht mehr.
Allseits war man zunächst geneigt, den knall-
roten Gegenständen zierlich und fein zuleibe zu
gehen. Man beschwichtigte den knurrenden Ma-
gen durch leises Schnüffeln an der Dillsoße, man
stach mit den Gabeln lässig nach den eisenhar-
ten, winzigen Krebsen. Die aber rutschten, flink,
höhnisch und unfein über die Teller, einen Strei-
fen rotgrüner Soße hinter sich herziehend.
„Butterkrebse haben keine Schalen", sagte eine
träumeriscl*e Baßstimme am Nebentisch. Sie ge-
hörte einem großen, dünnen alten" Herrn, der

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aussah wie ein Senator, obgleich er einen roten
Krebs am Westenausschnitt hängen hatte. Er
löste ihn soeben behutsam ab und legte ihn zu-
rück auf den Teller.

Da rief in der gegenüberliegenden Ecke eine
Dame entsetzt* „So halten Sie ihn doch festl"
Die Dame sagte das zu ihrem Tischnachbarn, der
entgeistert seinem ersten Krebs nachschaute. Er
hatte ihn nicht festgehalten. Der Krebs lag be-
reits auf dem weißen Kleid der Dame. Ein Mäd-
chen sagte „Au!" und zog verschämt eine spitze
Krebsschere unterm Sitz hervor, ein Bühnenkünst-
ler hob anklagend die beiden Gabeln zum Him-
mel, ein Gelehrter putzte sich kopfschüttelnd die
Soße von der Brille.

Da riß einem stattlichen Mann am Mitteltisch des
Lokals die Geduld. Er hatte bisher wie ein könig-
licher Kaufmann ausgesehen. Jetzt rieb er sich
kurz die Hände wie ein Ringer vor dem Angriff,
packte mit allen zehn Fingern einen der 'Krebse
und, riß ihn auseinander. Die aus den klaffenden
Schalen hervortretenden Krebsbeine stopfte er
sich nagend in den Mund, dann zertrümmerte er
mit gewaltigem Biß die Scheren, schnullte an
ihnen, schmatzte, schlürfte, kaute und holte zu-
letzt aus dem schmalen Krebsschwanz mit der
Gabelzinke ein winziges Stück gelblichen Fleisches.
Gebannt schaute das feine Lokal auf diese
wütende, kannibalische Genußsucht. Die Mägen
knurrten lauter. Gabeln sanken auf die Teller nie-

I>IE ALTK UHR

Ab heute schlägt die alte Uhr
Nach 6 die ganzen Stunden nur:

— 7

— 8

— 9 i

— 10

— 11

— 12—!

Zerfleddert Hegt die Welt darnieder
Und Im großen Menschheitsüeber
Werden auch die Uhren naß.
Letzter Schlag: Es lebt der Haß —!

Kuckuckl Kuckuck! Kuckuck!

Heinz Schneekloth

der. Dann fuhr der Herr, der wie ein Senator aus-
sah, mit der Hand in die Schüssel. Die Dame mit
dem roten Krebsfleck auf dem weißen Kleid folgte.
Ihr Tischnachbar nahm in jede Hand einen Krebs
und versuchte abwechselnd in beide hineinzu-
beißen. Der Bühnenkünstler sagte mit schöner
Betonung: „Ich bin der Mann der bleichen Furcht
nicht!" und warf sich auf seine Krebse. Ein jun-
ges Mädchen rupfte Bein auf Bein aus den roten
Dingern, eine ältere Dame in schwarzer Seide rief
entsetzt: „Igitt, mein Goldzahn!" Der Gelehrte
hatte die Brille abgelegt und kaute mit geschlos-
senen Augen am Brustkorb eines Krebses,
Das ganze Lokal schien einen roten Schimmer zu
bekommen. Rote Schalen wirbelten umher, füllten
die Aschenbecher, lagen auf dem Teppich, klebten
an Menjoubärtchen und den Resten gezupfter
Augenbrauen. Dillsoße lief unter Hemdärmeln em-
por bis zu den Ellbogen, die halben Papierserviet-
ten hingen als jämmerlich zerknüllte Hungerfähn-
chen zwischen Blusen- und Hemdenknöpfchen, am
Schleier eines Kapotthütchens wehte wie eine
Schleife ein Krebsschwanz. Der stattliche Mann
trank die Dillsoße aus der Schüssel, die Auf-
lösung aller Sitte und ethischen Ordnung schien
vollkommen. Sie dauerte an, bis der letzte Krebs
bezwungen und in ein Häuflein Schalen verwan-
delt war, deren eine den Wandspiegel zierte.
Da ordneten alle die letzten Krebsüberreste auf
den Tellerrändern zu zierlichen Häufchen und
blickten verschämt darauf nieder. Die Kellner eil-
ten herbei, um abzuräumen, und rückten diskret
ein Plakat neben dem Kleiderständer in volles
Licht. Darauf hieß es: „Bitte, verlangen Sie bei
Frau Schniewind, unserer Garderobefrau, einen
Kulturkasten für fünfzig Pfennig mit Seife und
Handtuch."

Der Paroxysmus des Krebsessens verflog. Einer
nach dem andern schlich zu Frau Schniewind. Ein
Kind rief laut: „Aber .Mama, ich habe so Hun-
ger." Der dicke Mann sagte, ihm säße das ganze
Dutzend Krebse im Backenzahn. Er war doch kein
königlicher Kaufmann. Auch wir hatten fürchter-
lichen Hunger. Aber nun trat die Kultur in ihr
Recht: wir kauften für unsere letzten fünfzig
Pfennig den ihr gewidmeten Kasten mitSeife und
Handtuch. Unterschied der Preise mußsein. Als
wir gesäubert waren, brachten die vornehmen
grauhaarigen Kellner auch Fingerschalen.
Alles war wieder, wie es sich in einem feinen
Lokal gehört. Vim
Bildbeschreibung

Werk/Gegenstand/Objekt

Titel

Titel/Objekt
"Korbflechter"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Der Simpl: Kunst - Karikatur - Kritik
Sachbegriff/Objekttyp
Grafik

Inschrift/Wasserzeichen

Aufbewahrung/Standort

Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Universitätsbibliothek Heidelberg
Inv. Nr./Signatur
G 5442-11-5 Folio RES

Objektbeschreibung

Maß-/Formatangaben

Auflage/Druckzustand

Werktitel/Werkverzeichnis

Herstellung/Entstehung

Künstler/Urheber/Hersteller (GND)
Klič, Karl
Entstehungsdatum
um 1947
Entstehungsdatum (normiert)
1942 - 1952
Entstehungsort (GND)
München

Auftrag

Publikation

Fund/Ausgrabung

Provenienz

Restaurierung

Sammlung Eingang

Ausstellung

Bearbeitung/Umgestaltung

Thema/Bildinhalt

Thema/Bildinhalt (GND)
Karikatur
Satirische Zeitschrift

Literaturangabe

Rechte am Objekt

Aufnahmen/Reproduktionen

Künstler/Urheber (GND)
Universitätsbibliothek Heidelberg
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
Alle Rechte vorbehalten - Freier Zugang
Creditline
Der Simpl, 2.1947, Nr. 14, S. 166.
 
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