Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
REDE AN DIE NOCH EINMAL DAVONGEKOMMENEN

Männer und Leute! Frauen und Jungfrauen! Betschwestern und andere
Fröjnmler! Rebellen und Spießbürger! Genossen!

Seit Thornton Wilder wißt Ihr, daß Ihr noch einmal davongekommen seid.
Nein, wir sprechen hier nicht von Politik — wir sprechen über Literatur.
Was ergab sich als literarische Situation? Wie bitte?!... Lauter, mein Herr,
wenn Sie Zwischenrufe machen! Aha! Ich höre... Surrealismus! Sehr gut!
Damit stehen wir da. wo wir augenblicklich stehen... Ueberwirklichkeitl
Der Mensch ist im Grunde nichts, ein Staubkorn im Spiel der Zufällig-
keiten ... so ist doch der Tenor hier, wie? Was kann er dafür, daß er
schlecht ist? Da^ Schicksal hat ihn so gemacht: er heckt Torheiten und
Verbrechen aus, weil es das Schicksal so will. Und eines Tages kommt
eine Sintflut, ein Erdbeben, ein neuer. Krieg — Millionen verrecken wieder...
bitteschön! Es ist alles furchtbar einfach: die dann davonkommen, dürfen
wieder von vorn beginnen, Narreteien und Verbrechen auszuhecken. Das
wird mit bühnen- und romanwirksamen Effekten ausgestattet, das wird er-
läutert von einem Ansager, der sich bereits aus dem Jahre 3000 ins vor-
läufige 20. Jahrhundert eingemogelt hat — und wir haben die modernste
Kunstrichtung, die es gibt, den dernier cri aus dem Westen, die Flucht in
das Nichts, weil der Mensch ein Nichts ist... Surrealismus!
Meine Herren! Bitte, auch die Damen näher herum... Was also ist Sur-
realismus? Ein Ismus wie so viele anderen Ismen, die vom Heil sprechen
und an einer todkranken Welt herumoperieren. Flucht in eine neue Roman-
tik, die eine ganze Weltgeschichte in drei Akte verpackt, einige Gespenster
in Sakkoanzüge steckt und zu beweisen versucht, daß der Mensch ein
Kümmerling ist, ein Haufen Elend — man kann auch sagen: zum Kotzen!
Nicht so zimperlich, wenn ich bitten darf, die Dame dahinten mit der
katholischen Schwesternhaube! Wo da die Romantik liegt, fragen Sie? Das
frage ich mich auch, wenn Sie an geflüsterte Gebete um Vergebung der
heimlichen Sünden im Mondlichtschatten nächtlicher Madonnenbilder dabei
denken . . . Nein, Verehrteste! Hier haben wir es mit einer anderen Art von
Romantik zu tun, hier verkriecht sich der Mensch, insonderheit der deutsche
Mensch, seit' er diesen Surrealismus kennenlernte, vor jeder Verantwor-
tung. Mag sein, daß der Amerikaner anders ist, vielleicht auch der Franzose

— mag sein,- daß Bobby Hill in New Orleans denkt: Lock here! Eine neue
Kunst... eine verdammt interessante Sache... o.k.! Damit hat es sich aber
auch. Hingegen der deutsche Mensch 1947? Der denkt so: Was kann ich
also dafür, daß alles so gekommen ist? Da haben wir's: Schicksal war es,
höhere Gewalt spielte mit, alles Leben ist nur ein Traumdasein, die höhere

— die Überwirklichkeit ist ganz anders;- aber die wird nicht von mir ge-
macht, sondern die macht mich zu dem, der ich bin! Jahrtausende beweisen,

Fr. Bilek: IM ERSTEN SCHRECK

daß der Mensch immer wieder ins Verhängnis sich verstrickt... Hat es
also Zweck, was dagegen zu tun? Es hat keinen Zweck. Ich lege die Hände
in den Schoß, es kommt ja doch, wie es kommen muß, nach mir die nächste
Sintflut, ich betrachte alles nur noch wie einen großen, schrecklichen Traum,
der auch seine hübschen Seiten hat — und einmal geht alles vorüber ...
Merkt Ihr was, Bürger und Bürgerinnen? Eine andere Religion: Gott ist
Surrealismus, und Surrealismus ist Schicksal, da kann man halt nix machen!
Und .merkt auch Ihr was Genossen und Rebellen? Ein Opiat, ein gefähr-
licher Rausch nebelt auf! Ein neuer Krieg kommt bald, vielleicht auch
hagelt es plötzlich drei Monate lang Steine so groß wie Straußeneier,
Hunderttausende werden erschlagen werden... Warum sollen wir uns ab-
zappeln? Armut gibt es nun einmal, Reichtum auch, Prolet zu sein ist Fatum,
Generaldirektor zu sein desgleichen, Demokratie ist Glückssache, Faschismus
ebenfalls. Es kann gut ausgehen, aber wahrscheinlich geht es schlecht aus;
denn es ging immer schlecht aus in der Weltgeschichte . .. merkt Ihr was,
Christen und Heiden, Welt- und Spießbürger? Surrealismus für den Deut-
schen 1947 ist Rauschgift! Er hat keine Zigaretten und Zigarren, keinen
Kaffee und Alkohol, aber besoffen ist er trotzdem schon wieder; denn er
taumelt, soweit er literarisch empfänglich ist, durch ,die überwirklichen
Phantastereien und gespenstisch dramatisierten Begebenheiten surrealisti-
scher Kunstauffassung. So einen guten Rausch, Preis von 5 bis 10 Mark,
je nachdem, ob er sich Sperrsitz oder Parkettsessel leistet, hat er seit Hitler
nicht mehr gehabt! ...

Meine Damen und Herren! Genießen Sie meine Rede vorsichtig! Nichts
grundsätzlich gegen Thornton Wilder und Genossen! Nichts grundsätzlich
gegen die Surrealisten mit ihrer Traumfabrik! Die Burschen können was, da
gibt es nichts! Jeder von ihnen steckt zehn deutsche Literaten in die Tasche,
denen es bekanntlich nicht nur an Einfällen mangelt, sondern auch an einem
Standort! Denn sie schwanken schon wieder wie Gräser im Winde zwischen
Mondscheinlyrik und Beschwörung der deutschen Seele, zwischen rechts
und links, zwischen Politik und Schöngeisterei — und sie wissen wieder
einmal gar nicht, was sie wollen. Aber, verehrte Zuhörer, übersehen Sie
nicht die andere Seite — yes, the other side, wie man da drüben in USA
sagt! Uebersehen Sie nicht, daß man mit Surrealismus der elenden Menschen-
kreatur nicht auf die Beine helfen kann! Die braucht Brot und Fett! Die
braucht Fleisch und sonntags eine Flasche Schnaps oder ein Picknick im
Grünen oder ein Bewußtsein, das ihr sagt: ich habe diese Woche nicht
umsonst geschuftet! Kurz, die braucht andere Verhältnisse und eine Politik,
die ihr bessere Verhältnisse schafft! Der Mensch ist gar nicht so ein Schwein,
wenn er satt zu fressen hat und weiß, warum und wofür er schuftet. Be-
denkt, Ihr noch einmal Davongekommenen, auch die andere Seite in der
Literatur! Traven, der Mann mit der harten, nackten Prosa, ist wichtiger als
Thornton Wilder! Gorki und Dostojewsky haben uns mehr zu sagen als
„Das Abgründige in Herrn Gerstenberg"! Und selbst ein Emile Zola war
seinem heute umschwärmten Landsmann und Kollegen Jean Paul Sartre um
etliche Nasenlängen Voraus, auch ohne Surrealismus und Existenzialphilo-
sophie, denn er wußte, daß der Mensch nicht nur ein Nichts ist, sondern
auch eine große Idee sein kann, die untaugliche Lebensbedingungen und
Daseinsformen über den Haufen wirft! Und Deutschland?
Ich brauche Ihnen, geschätzte Anwesende, obwohl Sie geistig beträchtlich
abwesend sind, nicht erst zu sagen, was es mit Deutschland auf sich hat.
Auf dem Trümmerhaufen Deutschland wächst das Gras. Aber die Leute, die
da vegetieren, hören das Gras nicht wachsen. Sie hören auch sonst nicht
eben gut auf das, was sich aus den Lehren der immer wieder verfahrenen
Geschichte ergibt. Aber sie schreiben schon wieder Gedichte! Schöne Ge-
dichte, romantische Gedichte — Gedichte, die Eichendorff und Mörike schon
geschrieben haben, nur viel besser, nur viel richtiger als die Heutigen, weil
damals das Lebensgefühl so war. Was soll man dazu sagen, wenn ein
prominenter deutscher Dichter — aber hören Sie selber:

„Wie haben diesen Frühling wir ersehnt!
Als wäre er ein Bildnis unseresgleichen,'
Das sich hervorhebt traumhaft, noch umtränt.
Bringt er den Frost des Herzens zum Erweichen?

Von Blütenwipfeln schimmernd überdehnt,
Sind wir ein Tanz und sind ein Händereichen.
Wie haben diesen Frühling wir ersehnt!
Als gäbe er das Aüferstehungszeichen . .."

Na, und so weiter. Was soll man dazu sagen?

Ich will hier nicht gegen Dich polemisieren, Genosse Johann R. Becher. Ich
weiß, was Du kannst! Ich weiß auch: Du bist ein Revolutionär! Wie liebten
wir Dich darum in Deinen früheren Gedichten! Aber dieses bringt doch
etwas anderes als „den Frost des Herzens zum Erweichen" ... es bringt
uns, wenn ich mich nicht sehf irre, um das letzte bißchen Verstand!
Ich sage Euch, Genossen und Brüder, wir wollen nicht erweicht und auch
nicht eingeweicht werden, wir wollen — ja, was also wollen wir? Lyrik?
Kunst und Literatur? Gewiß, auch das — das unter anderem! Aber wir wollen,
daß diese Lyrik, diese Kunst und Literatur uns behilflich sind, Verhältnisse
zu schaffen, in denen der Mensch nicht nur ein Schwein ist. Nicht nur
ein Nichts, im Grunde nie etwas dafür könnend, wenn die Sache schief
geht, aber auch kein von „Blüteriwipfeln schimmernd Ueberdehnter", der
sich in eine Romantik verliert, die zunächst unwiderbringlich dahin ist.
Vielleicht wird Romantik- einmal wiederkommen, es ist nicht ausgeschlossen,
denn, wenn wir es uns leisten können, nach erfolgter Sättigung mit ein-
wandfreien Lebensmitteln traumwandelnd in den blühenden Garten zu gehen,
um uns dort dem Blütenschmuck des Frühlings hinzugeben oder dem Zauber
einer Mondscheinnacht mit einer zärtlichen Geliebten... Dann vielleicht?!
Bis dahin aber sollten wir uns gefälligst etwas einfallen lassen, das uns
nicht zufrieden mit der Welt macht, sondern unzufrieden. Denn, und damit
komme ich zum Kernpunkt dieser Sache, wir sind es ja schon jeden Tag.
Wir sind mit uns und den Verhältnissen unzufrieden, und alles, was wir
sonst treiben: Kunst und Literatur, Religion und Philosophie am Teetisch
von Frau X., aber auch die Erotik mit Frau X. nachts nach 12 Uhr mit
allen ihren überkommenen und abgegriffenen Requisiten zur Erzeugung
leidenschaftlicher oder rauschhafter Zustände — alles dieses ist Narkotikum,
ist Flucht vor uns selber und der Wirklichkeit, ist Flucht aus diesem Leben
in ein anderes, das gar nicht da ist, sondern Traum und Spuk und Täuschung!
Frömmler! Rebellen und Spießbürger! Genossen! Der Merisch ist vorerst ein
ziemliches Schwein, bei Tag und auch bei Nacht besehen, aber er könnte,
wenn er wollte — ja, er könnte also! Herbert Lestiboudois

194
Bildbeschreibung

Werk/Gegenstand/Objekt

Titel

Titel/Objekt
"Im ersten Schreck"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Der Simpl: Kunst - Karikatur - Kritik
Sachbegriff/Objekttyp
Grafik

Inschrift/Wasserzeichen

Aufbewahrung/Standort

Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Universitätsbibliothek Heidelberg
Inv. Nr./Signatur
G 5442-11-5 Folio RES

Objektbeschreibung

Maß-/Formatangaben

Auflage/Druckzustand

Werktitel/Werkverzeichnis

Herstellung/Entstehung

Künstler/Urheber/Hersteller (GND)
Bilek, Franziska
Entstehungsdatum
um 1947
Entstehungsdatum (normiert)
1942 - 1952
Entstehungsort (GND)
München

Auftrag

Publikation

Fund/Ausgrabung

Provenienz

Restaurierung

Sammlung Eingang

Ausstellung

Bearbeitung/Umgestaltung

Thema/Bildinhalt

Thema/Bildinhalt (GND)
Karikatur
Satirische Zeitschrift

Literaturangabe

Rechte am Objekt

Aufnahmen/Reproduktionen

Künstler/Urheber (GND)
Universitätsbibliothek Heidelberg
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
Alle Rechte vorbehalten - Freier Zugang
Creditline
Der Simpl, 2.1947, Nr. 16, S. 194.
 
Annotationen