Es ist wahr: es war Wahnsinn von mir,
Lydia die für Weihnachten bestimmte Ente
in Pflege zu geben. Ich hätte Lydia zur
Genüge kennen müssen: Phantasie und
Sentimentalität, diese häufig dem Hang
zur Genüßlichkeit beigegebenen Eigen-
schaften, bestimmen im unrechten Augen-
blick ihr Handeln und werfen längst fest-
gesetzte Pläne mühelos über den Haufen.
Aber ich hatte der Stimme der Bequem-
lichkeit, leider einer der lautesten bei uns
Männern, nachgegeben und Lydia die halb-
wüchsige Ente zur - völligen Auffütterung
anvertraut. Auch rechnete ich damit, daß
ich Weihnachten wie immer mit Lydia und
Oskar verbringen würde und die Ente dann
doch mit ihnen teilen müßte. Auf Oskars
Freßlust aber konnte man sich verlassen.
Dachte ich. Die Ente gedieh. Sie wurde
mit den Abfällen der gesamten Nachbar-
schaft gefüttert. Ueberdies brachte ich ihr
meine Haferflocken, Oskar seinen Maisgrieß.
Lydia behauptete, ihr Reis aus einem Lie-
bespaket gestiftet zu haben. Die Ente
wohnte auf dem Balkon, war Griseldis
getauft worden und lief quakend herbei,
wenn Lydia sie rief. Lydia fand das Tier
süß. Sie nahm es auf den Arm und
, wischte ohne Aergernis geduldig alles vom Kleid, was die Ente im Uebermaß
ihrer Zufriedenheit in quickem Entschluß abzugeben beliebte.
Enten haben eine Art von Gemüt, das zu Herzen geht. Schon im Blick ihrer
Augen, die sie mit aufwärts gedrehtem, schrägem Kopf auf einen richten, liegt
zweifellos Seele. Sie haben das, was. man einst beim Scharadenspiel „Silber-
blick" nannte und was man heute im Auge von Filmwaisen vorwiegend findet:
fürchterliche Innigkeit, die zur Rührung verpflichtet. Oskar paßte sich dem
an und rief sanft: ,,Buibuibui — wo ist denn das Griserl?", Lydia flötete:
„Griseldis — komm schön, mein Dickerchen!" Ich ließ keine Rührung auf-
kommen und sagte: „Ho, sie watschelt ja schon ganz schön fett daher." Lydia
sah mich vorwurfsvoll an.
Fr. Bilefe: DIE UNTRÖSTLICHE
Sie wurde noch vorwurfsvoller, als ich mich beim Herannahen des Festes er-
kundigte, wann denn Griseldis nunmehr geschlachtet würde. Lydia seufzte. Idi
dachte erbittert an meine in Griseldis hineingestopften Nährmittel und bestand
auf dem weihnachtlichen Entenbraten. Oskar nickte begütigend.
Nun, ich setzte die Schlachtung durch. Aber welche Tragödie ward da auf den
Spielplan gesetzt! Lydia blieb weinend zurück, Oskar trug die Ente zum messer-
wetzenden Hausmeister, drückte ihr dort einen Lappen mit Aether auf den
Schnabel und lieferte die völlig Betäubte schließlich dem Metzger aus. Griseldis
wurde schmerzlos in der Narkose geschlachtet.
Als ich am Festabend zu Lydia kam, spürte ich nichts vom Duft knusprigen
Entenbratens. Lustlos standen auf dem Tisch Brötchen mit Krabbenpaste,
falschem Kaviar und Rettichscheiben, dazu ein kleines Stückchen Leberkäs.
Lydia saß mit roten Augen und geschwollener Nase in einer Ecke, Oskar flü-
sterte mit hörbarer Schonung: „Sie kann den Verlust des Tierchens nicht
verwinden . . ."
„Aber sie war doch schon geschlachtet", sagte ich verzweifelt. „Wir können
sie doch essen . . ."
„Keinen Bissen brächte ich hinunter", schluchzte Lydia, „es ist alles noch so
frisch in Erinnerung . . ."
„Na, und", sagte ich erbittert, „was habt ihr mit Griseldis gemacht. . . ?"
„Wir haben sie", sagte Lydia und weinte laut, „wir haben sie eingeweckt. . ."
und sie deutete auf ein Glas, darin helle Geflügelteile in fetter Soße schwam-
men. Ich entdeckte daran keine Spur von Gemüt, ja, ich weigerte mich auch
energisch, in den nach oben gereckten, dickgepolsterten Flügeln etwas Ankla-
gendes zu sehen, wie Lydia wünschte. Ich sah nur einen fetten Braten.
„Gib mir meinen Teil, ich werde ihn zu Hause essen", sagte ich und ich weiß,
es war roh. Aber es war auch erfolglos. Lydia riß das Glas an sich und er-
klärte, Griseldis käme auf den Schrank in ihrem Schlafzimmer, bis wir mehr
Abstand zu der Sache hätten.
„Nächstes Jahr", sagte ich und würgte grimmig ein Fi'schpastebrötchen hin-
unter, „nächstes Jahr werden wir eine Gans füttern — Gänse haben kein
Gemüt — sie haben einen tückischen, kalten Charakter, man wird nicht weich,
wenn sie einen anschauen, man denkt eisern an Gänsegrieben . .."
„Hoffen wirs", sagte Lydia, „Gänsegrieben sind etwas Wundervolles . . ." und
sie legte beide Hände liebevoll um die eingeweckte Griseldis. Doch ich weiß
nicht: hatte die Vorstellung von Gänsebraten Lydias Genüßlichkeit erweckt,
oder fand sie, daß nun dem Gemüt genug gefrönt war — jedenfalls entdeckte
ich in diesem Augenblick den ersten tröstlichen Schimmer erwachenden Appetits.
Effi Horn
H. Beyer
WIE DIE GROSSEN . ..
297
Lydia die für Weihnachten bestimmte Ente
in Pflege zu geben. Ich hätte Lydia zur
Genüge kennen müssen: Phantasie und
Sentimentalität, diese häufig dem Hang
zur Genüßlichkeit beigegebenen Eigen-
schaften, bestimmen im unrechten Augen-
blick ihr Handeln und werfen längst fest-
gesetzte Pläne mühelos über den Haufen.
Aber ich hatte der Stimme der Bequem-
lichkeit, leider einer der lautesten bei uns
Männern, nachgegeben und Lydia die halb-
wüchsige Ente zur - völligen Auffütterung
anvertraut. Auch rechnete ich damit, daß
ich Weihnachten wie immer mit Lydia und
Oskar verbringen würde und die Ente dann
doch mit ihnen teilen müßte. Auf Oskars
Freßlust aber konnte man sich verlassen.
Dachte ich. Die Ente gedieh. Sie wurde
mit den Abfällen der gesamten Nachbar-
schaft gefüttert. Ueberdies brachte ich ihr
meine Haferflocken, Oskar seinen Maisgrieß.
Lydia behauptete, ihr Reis aus einem Lie-
bespaket gestiftet zu haben. Die Ente
wohnte auf dem Balkon, war Griseldis
getauft worden und lief quakend herbei,
wenn Lydia sie rief. Lydia fand das Tier
süß. Sie nahm es auf den Arm und
, wischte ohne Aergernis geduldig alles vom Kleid, was die Ente im Uebermaß
ihrer Zufriedenheit in quickem Entschluß abzugeben beliebte.
Enten haben eine Art von Gemüt, das zu Herzen geht. Schon im Blick ihrer
Augen, die sie mit aufwärts gedrehtem, schrägem Kopf auf einen richten, liegt
zweifellos Seele. Sie haben das, was. man einst beim Scharadenspiel „Silber-
blick" nannte und was man heute im Auge von Filmwaisen vorwiegend findet:
fürchterliche Innigkeit, die zur Rührung verpflichtet. Oskar paßte sich dem
an und rief sanft: ,,Buibuibui — wo ist denn das Griserl?", Lydia flötete:
„Griseldis — komm schön, mein Dickerchen!" Ich ließ keine Rührung auf-
kommen und sagte: „Ho, sie watschelt ja schon ganz schön fett daher." Lydia
sah mich vorwurfsvoll an.
Fr. Bilefe: DIE UNTRÖSTLICHE
Sie wurde noch vorwurfsvoller, als ich mich beim Herannahen des Festes er-
kundigte, wann denn Griseldis nunmehr geschlachtet würde. Lydia seufzte. Idi
dachte erbittert an meine in Griseldis hineingestopften Nährmittel und bestand
auf dem weihnachtlichen Entenbraten. Oskar nickte begütigend.
Nun, ich setzte die Schlachtung durch. Aber welche Tragödie ward da auf den
Spielplan gesetzt! Lydia blieb weinend zurück, Oskar trug die Ente zum messer-
wetzenden Hausmeister, drückte ihr dort einen Lappen mit Aether auf den
Schnabel und lieferte die völlig Betäubte schließlich dem Metzger aus. Griseldis
wurde schmerzlos in der Narkose geschlachtet.
Als ich am Festabend zu Lydia kam, spürte ich nichts vom Duft knusprigen
Entenbratens. Lustlos standen auf dem Tisch Brötchen mit Krabbenpaste,
falschem Kaviar und Rettichscheiben, dazu ein kleines Stückchen Leberkäs.
Lydia saß mit roten Augen und geschwollener Nase in einer Ecke, Oskar flü-
sterte mit hörbarer Schonung: „Sie kann den Verlust des Tierchens nicht
verwinden . . ."
„Aber sie war doch schon geschlachtet", sagte ich verzweifelt. „Wir können
sie doch essen . . ."
„Keinen Bissen brächte ich hinunter", schluchzte Lydia, „es ist alles noch so
frisch in Erinnerung . . ."
„Na, und", sagte ich erbittert, „was habt ihr mit Griseldis gemacht. . . ?"
„Wir haben sie", sagte Lydia und weinte laut, „wir haben sie eingeweckt. . ."
und sie deutete auf ein Glas, darin helle Geflügelteile in fetter Soße schwam-
men. Ich entdeckte daran keine Spur von Gemüt, ja, ich weigerte mich auch
energisch, in den nach oben gereckten, dickgepolsterten Flügeln etwas Ankla-
gendes zu sehen, wie Lydia wünschte. Ich sah nur einen fetten Braten.
„Gib mir meinen Teil, ich werde ihn zu Hause essen", sagte ich und ich weiß,
es war roh. Aber es war auch erfolglos. Lydia riß das Glas an sich und er-
klärte, Griseldis käme auf den Schrank in ihrem Schlafzimmer, bis wir mehr
Abstand zu der Sache hätten.
„Nächstes Jahr", sagte ich und würgte grimmig ein Fi'schpastebrötchen hin-
unter, „nächstes Jahr werden wir eine Gans füttern — Gänse haben kein
Gemüt — sie haben einen tückischen, kalten Charakter, man wird nicht weich,
wenn sie einen anschauen, man denkt eisern an Gänsegrieben . .."
„Hoffen wirs", sagte Lydia, „Gänsegrieben sind etwas Wundervolles . . ." und
sie legte beide Hände liebevoll um die eingeweckte Griseldis. Doch ich weiß
nicht: hatte die Vorstellung von Gänsebraten Lydias Genüßlichkeit erweckt,
oder fand sie, daß nun dem Gemüt genug gefrönt war — jedenfalls entdeckte
ich in diesem Augenblick den ersten tröstlichen Schimmer erwachenden Appetits.
Effi Horn
H. Beyer
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Werk/Gegenstand/Objekt
Pool: UB Der Simpl
Titel
Titel/Objekt
"Die Untröstliche" "Wie die Grossen ..."
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Der Simpl: Kunst - Karikatur - Kritik
Sachbegriff/Objekttyp
Inschrift/Wasserzeichen
Aufbewahrung/Standort
Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Inv. Nr./Signatur
G 5442-11-5 Folio RES
Objektbeschreibung
Maß-/Formatangaben
Auflage/Druckzustand
Werktitel/Werkverzeichnis
Herstellung/Entstehung
Künstler/Urheber/Hersteller (GND)
Entstehungsdatum
um 1947
Entstehungsdatum (normiert)
1942 - 1952
Entstehungsort (GND)
Auftrag
Publikation
Fund/Ausgrabung
Provenienz
Restaurierung
Sammlung Eingang
Ausstellung
Bearbeitung/Umgestaltung
Thema/Bildinhalt
Thema/Bildinhalt (GND)
Literaturangabe
Rechte am Objekt
Aufnahmen/Reproduktionen
Künstler/Urheber (GND)
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
In Copyright (InC) / Urheberrechtsschutz
Creditline
Der Simpl, 2.1947, Nr. 24, S. 297.
Beziehungen
Erschließung
Lizenz
CC0 1.0 Public Domain Dedication
Rechteinhaber
Universitätsbibliothek Heidelberg