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Ft. Lichtwitz: SEINE-UFER

ROMAN EINER NACKTTÄNZERIN

1. FASSUNG. Frei nach Marlin.

Mein armes Müttcrlcin erfror auf der Flucht von Danzig nach Großdingtupfing. Mein
herzlieber Bruder geriet in einer fernen Küstenstadt unter hinterlistige Räuber, die ihn
seiner letzten Habe beraubten und ihn in ihre finsteren Netze zogen, ihn ihren ab-
scheulichen Plänen gefügig machend. Oh, über das sonnige Gemüt meines herzlichen
Bruders! Ich selbst war in der Blüte meiner siebzehn Jahre in der kalten Welt allein
gelassen, Schluchzend fror ich auf den harten Bahnhofsbunkerbetten, milde Menschen
um Linderung der bittersten Not anflehend. Ja, es gab sie noch, die Menschenfreunde
unter der einfachen, unverbildeten Bevölkerung. Ich fand bei einer edlen Dame Unter-
kunft und Verpflegung, der ich meine ergreifenden Schicksale schilderte, worauf sie
die arme Waise weinend vor Mitgefühl an den mütterlichen Busen zog. So behütet
ging ich daran, eine einfache aber ehrliche Arbeit zu suchen. Mein Müttcrlcin hatte
mich gelehrt, aus alten Schweißsocken reizende Hausschuhe anzufertigen. Diese ehrliche
Beschäftigung übte ich einige Zeit aus. Doch das grausame Leben war teuer. Die edle
Dame, bei der ich ein herziges Stübchen nebst einem liebreizenden Kanarienvogel
bewohnte, jammerte über mein kärgliches Los, das meine blühende Jugend, die himm-
lische Gestalt, die manches feurige Männcrauge liebkoste, in der düsteren Werkstatt
der hartherzigen Frau Zwirnfiesl dahinwelken ließ, Sie beschied ein junges Mädchen
namens Sylvia zu sich, das manchen Nachmittag bei einer Tasse duftenden Bohnen-
trankes die edle Dame mit heiterem Geplauder ergötzte, von dem mir etliches in
meiner zarten Jugend unverständlich blieb. Das reizende Backfischchen musterte ab-
schätzend meine Garderobe und zog verächtlich einen Flunsch. Sie brachte mir in einer
entzückenden kameradschaftlichen Wallung, die mich tränenüberströmt an die selige
Zeil der Jungmädclfahrten erinnerte, ein süßes Kleidchen, in dem ich mich purpur-
erglühend im Spiegel betrachtete.' Wir entflatterten Hand in Hand mit fröhlichem
Kichern, begleitet von den Segenswünschen und dem sonnigen Blick der edlen Dame.
Am nächsten Morgen kehrte ich zurück, von inniger Liebe
zu einem hohen, schlanken, markanten Offizier in stra-
lender Uniform mit Auto erfüllt, der mein junges Herz
im Sturm erobert hatte.

Alle Sorgen hatten zudem ein Ende und ich beschenkte
die edle Dame mit vollen Händen für ihre selbstlose
Sorge um die mutterlose Waise. Bald entdeckte man
mein phänomenales Tanztalcnt. „Du bist eine zweite
Duncan!" jauchzte die edle Dame emphatisch. Erglühend
barg ich mein stolzgeschwelltes Gesicht an ihrer Brust.
Mein Stern war im Aufgehen. O du schöne Welt!

I/. (wahrscheinliche) FASSUNG. Frei nach mir selbst.
Mutter beerdigte man mit einem Schwung anderer Er-
frorener aus unserem Zug. Mein Bruder Willi blieb bis
München bei mir. Wir schliefen in einem muffigen
Bunker. Willi fuhr mit zwei neuen Freunden mit Tabak
und Butter nach Hamburg. Er wollte gleich wieder retour,
aber die Zeit verging. Hoffentlich läßt er mal was von
sich hören. Manchmal half mir Egon mit Zigaretten aus.
Mein Geld verwahrte ich in einem unter dem Hemd
getragenen Katzenfell von Mutter. Aber es wurde schnell
weniger. Der Bunker war wirklich fürchterlich. Frau
Lazuweit aus Elbing erwürgte ihren Säugling und hängte

sich an einem Kunstledergiirtel im Klo auf. Gottseidank riß das Zeugs. Da weiß man
doch, zu was so ein Kunstledergürtel gut sein kann.

Jetzt sitzt die Lazuweit wegen dem Säugling im Kittchen. Mein Pritschennachbar, der
alte Kahrens, ein Hotelbesitzer aus Königsberg, wackelt den ganzen Tag mit dem
Kopf, grinst blöd und meckert: „Guten Abend, verehrte Damen. Wie war die Vor-
stellung? Schöne Stimmen: Prächtige Stimmen?" Egon gab mir einen großen Schlüssel
und sagte, ich sollte dem Alten im Notfall damit eins vor den Latz knallen. Er wäre
noch ein wenig belämmert von der hastigen Abreise aus Königsberg. Sylvia behauptete,
ihr Vater wäre Regierungsrat in Berlin gewesen und sie hätte mit der flachen Hand
einen Russen erschlagen, als der was von ihr wollte. Jetzt ist sie nicht mehr so
etepetete, wenn einer was von ihr will. Sie hatte immer Zigaretten und .'ne Menge
Riesenkippen. Einmal nahm sie mich mit zu Odette. Odette wohnte in der Nähe des
Oberwiesenfeldes. Sie hatte ein schönes Zimmer mit seidenverhängten Lampen und
Sofas hinter wunderbaren Vorhängen. Sowas Gemütliches habe ich noch nie gesehen.
Sylvia sagte zu Odette, ich wäre ein nettes Mädchen, kein Spielverderber. Ein wenig
später kamen Fredy, Alexander und James mit Whisky. Auch Odette rückte mit
Schnapsbuddeln heraus, die Flasche zu zehn Dollar. Am Morgen gingen wir weg.
Ich glaube, ich war besoffen. Zu Odette sagte ich: „Fermez. la porte", weil ich aus
einer feinen Familie stamme. Aber sie verstand kein Wort. Ich glaube, sie ist gar
keine Französin. Wir gingen immer wieder mal hin zu ihr. Dann kam die blöde Razzia.
Sylvia hatte Schwein, aber mich fuhr man in die Dictlindenstraße. Abends schauten
wir zum Fenster hinaus. Der Ton paßte mir ja nicht so ganz. Schließlich war ich
was Feineres. Als ich rauskam, holte ich vom Bunker noch ein paar Sachen. Der alte
Kahrens wackelte mit dem Kopf: „Wie war die Vorstellung? Schöne Stimmen? Präch-
tige Oper?" Da schmiß ich ihm den großen Schlüssel an den Kopf. Wegen Körper-
verletzung saß ich ein paar Wochen. Ich hatte dann wirklich genug von der ewigen
Sitzerei. Ich nahm eine stumpfsinnige Beschäftigung an, weil mir das Arbeitsamt

auf die Zehen trat. Wenn ich mir Mühe gegeben hätte,
wären die Hausschuhe ganz nett geworden.
Aber bei meiner Figur Latschen nähen? Pah! „Hau ab!"
sagte Sylvia. „Es jibt wat anderes vor dir!" Bei Frau
Bicrprügl kam ich mit Sylvias Hilfe unter.
Die Bierprügl ist eine ehemalige Büfettdame mit
dickem Busen und gefärbten Haaren. Sie tut ziemlich
süß mit mir. Sylvia und sie tauschten manchmal Kaffee
und Zigaretten gegen Stoff und Schuhe, die die Bier-
prügl von einem Mann bezog, der abends mit einem
alten Ford kam. Er wollte sich an mich ranmachen, aber
Sylvia sagte: „Finger wech, Männekcn! Det Mächen is
nischt vor dir krummen Schlot!" Wir gingen wieder zu
Odette. Sie fragte uns, ob wir tanzen könnten. Na klar!
Da verhängte sie die Lampen noch ein bißchen mehr
und wir zogen uns aus. „Alles runter!" winkte Odette.
,.Da mußte aba noch 'n paar Kohlen nachlegen!" sagte
Sylvia. — Ich lerne jetzt steppen. Frau Bierprügl be-
kommt jede Woche zwei Schachteln Chesterfield. Die
alte Fregatte läßt mich für die elende Rumpelkammer
und den ruppigen Kanari schwer blechen. Ich" möchte
gern wissen, was aus Willi in Hamburg geworden ist.
Fredy will mir 'n Engagement in einem tollen Club
verschaffen. JVL Dcllinqer

G. Knuhr

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Bildbeschreibung

Werk/Gegenstand/Objekt

Titel

Titel/Objekt
"Seine-Ufer"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Der Simpl: Kunst - Karikatur - Kritik
Sachbegriff/Objekttyp
Grafik

Inschrift/Wasserzeichen

Aufbewahrung/Standort

Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Universitätsbibliothek Heidelberg
Inv. Nr./Signatur
G 5442-11-5 Folio RES

Objektbeschreibung

Maß-/Formatangaben

Auflage/Druckzustand

Werktitel/Werkverzeichnis

Herstellung/Entstehung

Künstler/Urheber/Hersteller (GND)
Knuhr, Günter
Lichtwitz, Friedemann
Entstehungsort (GND)
München

Auftrag

Publikation

Fund/Ausgrabung

Provenienz

Restaurierung

Sammlung Eingang

Ausstellung

Bearbeitung/Umgestaltung

Thema/Bildinhalt

Thema/Bildinhalt (GND)
Ufer
Kopf <Motiv>
Paris
Seine
Spaziergänger <Motiv>
Karikatur
Satirische Zeitschrift

Literaturangabe

Rechte am Objekt

Aufnahmen/Reproduktionen

Künstler/Urheber (GND)
Universitätsbibliothek Heidelberg
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
In Copyright (InC) / Urheberrechtsschutz
Creditline
Der Simpl, 3.1948, Nr. 3, S. 26.

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Erschließung

Lizenz
CC0 1.0 Public Domain Dedication
Rechteinhaber
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