Früher, ich meine damit jene Zeit, zu der
noch keine Eisenbahn mitten durch unsere
kleine Stadt fuhr, wäre es keinem Men-
schen eingefallen, etwas über sie zu schrei-
ben. Es hätte sich nicht gelohnt.
Damals gingen die Bürger noch ausschließlich ihrem Berufe nach. Sie füllten die Kirche
zur Andacht und leerten die Maßkrüge in den Wirtschaften. Im Physiksaal der Real-
schule wurde damals noch Physik gelehrt, im Finanzgebäude errechneten die Beamten
winzige Steuersätze und- im Vorsteherzimmer des Postamtes -saß der Herr Postvorsteher
und erfüllte seine Pflicht, während der Herr Pfarrer jene segnete, die in den geräu-
migen Bürgerwohnungen zur Welt gekommen oder aber von ihr gegangen waren.
Ja, so war das damals.
In der Prinzregentenstraße, jener Straße also, durch die seinerzeit die Eisenbahn nach
München schnaufte, steht heute ein gewaltiger Wohnhausblock, in dem sich ein Kino
befindet. In ihm sah ich gestern Thornton Wilders „Unsere kleine Stadt". Sicherlich
kennen Sie diesen Film schon und werden mir bestätigen, daß er die Atmosphäre einer
nordamerikanischen Kleinstadt überzeugend und leicht verständlich eingefangen hat.
Aber unsere kleine Stadt konnte diese kleine Stadt nicht verdauen. Oder sagen wir
einmal die Art, in der sie ihr gezeigt wurde. Der sympathische Eiscremesodahändler,
der sich freundlicherweise als Fremdenführer zur Verfügung gestellt hatte, wirkte auf
unsere Bürger wie ein Hanswurst aus der seligen Zeit einer Neuberin. Die Prozession
regentriefender Schirme, die zum Bergfriedhof zog, errang einen ausgesprochenen
Heiterkeitserfolg, während die Traumvisionen der Gebärenden ein Pfeifkonzert aus-
zulösen vermochten.
Der Herr neben mir sah sich erstaunt um und wandte sich in einem Akzent, der das
große Wasser ahnen ließ, über das er nach Deutschland gekommen war, an mich und
fragte, warum denn die vielen Leute aufstünden und das Kino verließen.
„Sie wissen mit dieser kleinen Stadt nichts anzufangen", erwiderte ich ihm. „Sie
haben einen Film dieser Art noch nicht gesehen. Und auch auf unserer heimatlichen
Bauernbühne, die den Maßstab für das kulturelle Niveau unserer kleinen Stadt dar-
stellt, wurde Ahnliches noch nicht gezeigt. Das Neue und vielleicht Richtunggebende
an der Gestaltung dieses Films erkennen unsere Bürger nicht. Und würden sie es
erkennen, würden sie es trotzdem ablehnen, weil eben unsere kleine Stadt eine andere
ist als die da vorn auf der Leinwand."
,;Eine andere Stadt...?" wiederholte der Fremde nachdenklich.
„Ja. Wenigstens heute."
„Das ist sehr interessant", meinte der Herr neben mir. „Da muß ich mir diese kleine
Stadt einmal genau anschauen."
„Tun Sie es doch! Und wenn es Ihnen recht ist, will ich Sie gern führen."
„Oh — das ist sehr freundlich von Ihnen. Ich nehme Ihr Angebot gern an."
Der Kinosaal war bis auf drei Besucher leer geworden. Obgleich der sympathische
Eiscremesodahändler seinen Gute-Nacht-Gruß noch lange nicht entboten hatte.' Zwei
der Basucher waren wir. Der dritte saß vor uns und . .. schlief.
Schließlich fiel der Vorhang zum letztenmal, denn der Film mußte wegen schlechten
Besuchs nach drei Tagen abgesetzt werden.
Und nun habe ich mich mit dem fremden Herrn wiedergetroffen, um ihm bei Tages-
licht unsere kleine Stadt zu zeigen.
„Sehen Sie — das hier ist der Ludwigsplatz. Hierher kamen, früher die Bauern aus
der Umgebung, um ihre Erzeugnisse anzubieten, deren Preise sie um die Hälfte senkten,
wenn sie die Eier und Butter, das Obst und Geflügel nicht los wurden. Aber auch das
ist schon eine ganze Weile her. ..
Dort drüben liegt das Postamt, auf dem man zuweilen Briefmarken, und wenn man
Glück hat, sogar Postkarten kaufen kann. Der Flüchtlingskomtnissar, der heute im
Zimmer des Herrn Postvorstehers amtiert, ist dafür allerdings nicht verantwortlich zu
machen, obgleich er sonst an allem Schuld trägt, was in unserer kleinen Stadt geschieht.
Und jetzt kommen wir gleich zum Hauje des Herrn Stadtpfarrers. Sie haben vielleicht
davon gehört, daß er vor einiger Zeit zahlreichen zugereisten Bürgern den Segen zur
heiligen Ehe gegeben hat, obgleich sie aus Unkenntnis versäumt hatten, vorher zum
Standesamt zu gehen und nun viele uneheliche Kinder haben. Doch sie sind nicht die
einzigen in unserer kleinen Stadt.
Ja, und da drüben steht die Polizeiwache — und das hier ist das Amtsgericht. Ein
schöner und imposanter Bau, nicht wahr? Hier haben sich im Laufe der Zeit alle
Bürger verantworten müssen, die mit dem Gesetz in Konflikt gekommen waren. Der
Milchhändler aus der Stollstraße, dem etliche Zentner Butter abhanden gekommen
waren, die Krämersfrau, die Zucker gegen Geräuchertes tauschte, der Buchdrucker, bei
dem man mehr Schmuck und Lebensmittel vorgefunden hatte, als ein Mensch an Händen
und Füßen zu tragen vermag beziehungsweise innerhalb eines Jahres zu verdauen im-
stande ist, und der Herr Redakteur, der ganz vergessen hatte, daß er seinerzeit nicht
wegen seiner politischen Einstellung, sondern wegen seiner Selbstverstümmelung als
Soldat zum Tode verurteilt worden war.
Kommen Sie doch bitte einmal mit hinauf in den zweiten Stock. Von dort aus hat
man einen schönen Blick, auf unsere kleine Stadt.
Sehen Sie — dort steht das Haus, in dem das erste Nogerbaby geboren wurde. Die
Häuser, in deneri"die späteren Mohrenkinder zur Welt kamen, liegen weiter hinten ...
Da, wo das Holz auf dem Balkon liegt, wohnt ein einstmals sehr berühmter Mann.
Er galt als Fliegerheld und besitzt noch heute das Ritterkreuz. Soviel ich weiß, kann
man bei ihm jetzt Fotoapparate kaufen. Fabrikneue Retinas, beispielsweise. Sie
kennen dieses Fabrikat, auf das so viele Arzte und Berufsfotografen seit Jahren war-
ten, ohne, die Aussicht zu haben, eine dieser Kameras zu bekommen.
Wußten Sie schon, daß es in unserer kleinen Stadt viel Schnaps zu kaufen gibt? Es
handelt sich dabei um heimische Erzeugnisse. Sie werden in Küchen und Kellern aus
UND DAS IST UNSERE „KLEINE STADT"
VEREIN FLU KUNST UND WISSENSCHAFT E. V.
Die für den 27. Januar 1948 geplante Aufführung von Thornton Wilder:
Unsere kleine Stadt
muß verschoben werden!
Neuer Termin wird bekannt gegeben.
Gelöste Karten behalten GülligkeitI
DIESES PLAKAT ERSCHIEN JEDOCH IN HAMELN
Zucker und Obst hergestellt. Meistens wohl
nachts. Dieser Schnaps wird vorwiegend
bei geschlossenen Veranstaltungen in un-
seren Tanzsalons konsumiert, bei denen sich
unsere Geschäftsleute vom Alltag ein wenig
erholen. In brokatenen Abendkleidern, von denen unsere populärste Schneiderin kürz-
lich vierzig Stück anfertigen mußte, als sich die prominenten Bürger unserer kleinen
Stadt zu einem bescheidenen Beisammensein im Ratskeller einfanden.
Die Häuser, die Sie da drüben sehen, bilden die Rückfront des Max-Josef-Platzes, mit
den Eingängen zu den Hinterräumen der vielen Geschäfte. Diese Eingänge benutzen
jene Bürger, die den Kauflcuten kleine Päckchen bringen und jene Päckchen abholen,
die im Laden beim besten Willen nicht zu haben sind und auch nicht wieder herein-
kommen. Der Herr dort wird sicherlich eiri solches Päckchen in seiner Aktentasche
haben . . .
Ach — und da geht ja auch die Frau Bäckermeister. Nein, nicht dort an der Rück-
front — da, in der Königstraße. Sie ist eine der bekanntesten Bürgerinnen in unserer
Stadt. Wer sie bisher nicht kannte, hörte kürzlich von ihr, daß sie sich geweigert .habe,
zwei alte Flüchtlinge in ihren leerstehenden Bodenkammern aufzunehmen. Die Brand-
versicherung hatte ihr schriftlich bestätigt, daß das Haus baufällig sei. Vorsichtshalber
aber hatte sie auch noch die Bknen aus den Fassungen geschraubt, um den kommenden
Ruinen jeglichen Nimbus der Kultur zu nehmen.
Und die Dame, die dort in die Rathausstraße einbiegt, ist Frau Mayer. Frau Mayer
wohnt im Salzstadel und hat eine Tochter. Das wäre an sich noch nichts Ungewöhn-
liches, wenn diese Tochter nicht einen ungewöhnlichen Namen trüge. Sie heilifc nämlich
Mrs. Hiroshima Hirasnima geb. Mayer und hat einen Soldaten geheiratet, dem sie
demnächst in seine Heimatstadt Honolulu tolgen will.
Der Herr mit der Aktenmappe unterm Arm, der gerade aufs Amtsgericht zukommt,
ist Rechtsanwalt Dr. König. Er gilt als guter Strafverteidiger und hat eine Frau, zwei
Kinder und ein Zimmer. In diesem Zimmer stehen zwei Batten, eine Wickelkommode,
ein Schreibtisch und ein Aktenschrank. Sie werden mir recht geben, daß das nicht
viel ist für einen tüchtigen Strafverteidiger. Und für einen namens König schon gar
nicht! Morgens einhält» acht Uhr bringt die Königin ihre Kleinen in den Kindergarten.
Anschließend beschäftigt sie sich bis zum Abend in der Küche des Wohnungsinhabers,
der ihr die Mitbenutzung erlaubt hat. Das muß so sein, weil der Herr Doktor ab
acht Uhr seine Klienten im Schlafzimmer, das ihm zugleich als Kanzlei dient, empfängt
und den Raum also für sich allein beansprucht.
Wollen wir uns doch den Max-Josef-Platz auch einmal von vorn ansehen. Er war vor
einem Jahr noch der .Platz der Treuhänder'. Die Inhaber der Läden am Max-Josef-
Platz saßen nämlich zum größten Teil hinter schwedischen Gardinen. Nein, nein —
sie hatten niemandem etwas zuleide getan. Nur mit ihren Fragebogen stimmte irgend
etwas nicht. Aber nun sind sie ja alle wieder da und kommen nun selber in den
Genuß der Kompensationsgeschäfte.
Schauen Sie — dort radelt gerade Herr Huber zum Postamt. Und wie schnell er in
die Pedale tritt! Das ist ein gutes Omen! Immer, wenn er schnell radelt, holt er
nämlich ein Amerika-Paket für die beiden alten Damen aus der Innstraße vonT Post-
amt. Diese beiden Damen bekommen zuweilen Zigaretten geschickt. Und da sie selber
Nichtraucher sind, verkaufen sie das Nicotica an unsem Dienstmann. Da hat dann die
halbe Stadt etwas davor. '
Die Dame in dem DKW, der unsern Dienstmann gerade überholt, ist die Inhaberin
einer unserer bestgehenden und leistungsfähigsten Schneiderwerkstatt. Im vergangenen
Jahr hat sie einmal Pech gehabt. Da brachen Spitzbuben in ihr Lager ein und stahlen
etliche Ballen Anzugstoff, kurz nachdem ein Heimkehrer zum zwanzigsten Male ver-
geblich versucht hatte, dreieinhalb Meter solchen Stoffes auf seinen Bezugschein zu
erstehen. Finanziell schrnt jedoch der Schaden nicht bedeutend gewesen zu sein, denn
die Dame kann trotzdem ihr Wohnhaus zu Ende bauen, so, wie der Herr Stadtrat, der
Herr Stadtbaurat und einige andere Große unserer kleinen Stadt.
In unserer kleinen Stadt leben heute dreißigtausend Seelen. Zwanzigtausend Menschen
und zehntausend Leute, die den Wunsch haben, noch Menschen werden zu können. Sie
tun, was in ihren Kräften steht, um dieses Ziel recht bald zu erreichen. Die Männer
arbeiten in den Eisenwerken und Fabriken, während die Frauen in der Lumpensortier-
anstalt schuften oder, sich ihren Lebensunterhalt mit Putzen verdienen, obgleich sie
früher einmal einen großen Bauernhof, eine eigene Bootswerft oder einen ansehnlichen
Handwerksbetrieb besaßen.
Die ganz Tüchtigen von ihnen stampften Tauschzentralen und Übersetzungsbüros oder
auch Gesellschaften zur Verwertung alten Wehrmachtgutes aus der Erde. Sie ver-
öffentlichten englische Lehrbücher für den Hausgebrauch oder pachteten sich eine
Druckerei — und wer entsprechend kräftige Ellenbogen oder die erforderlichen Be-
ziehungen besaß, tat beides gemeinsam.
Sie sehen also, daß heute manches anders ist, als es früher gewesen sein mag und als
die kleine Stadt auf der Filmleinwand zu zeigen vermochte. Viele unserer alten Bürger
sterben heute such nicht mehr in einem Bett, sondern auf einem mit Holzwolle gefüll-
ten Sack, der vielleicht im Konferenzzimmer einer höheren Schule oder in irgend einer
Baracke liegt. Inmitten von Lumpenbündcln, Pappkartons und anderen Resten einst-
maligen Reichtums.
Aber auch das neue Leben wird in diesen Orten geboren. Daß es überhaupt zu neuem
Leben kommt, mag zum Teil am Physiksaal der Realschule gelegen haben. In dieser
Schule hatten vor einiger Zeit zahlreiche Flüchtlinge (pardon: Neubürger!) ein Obdach
gefunden. Der Physiksaal, der einst wohl hundert Schülern Platz geboten hatte, war
von ihnen ausgeräumt worden. Bis auf den schwer zu transportierenden Experimen-
tiertisch. Sie kennen diese Art von Tischen mit den Wasserhähnen und den kurzen
Gummischläuchen daran . . . Vor dem Experimentiertisch hatten sie eine alte Matratze
und ein paar Decken gelegt. Und wer jung verheiratet war (oder es auf Grund des
'Segens durch den Herrn Stadtpfarrer zu sein annahm), besaß den Vorzug, sich im
Physiksaal einzuschließen und sich seinem Liebesglück hingeben zu können ... Ja, und
dann stiegen halt die Geburtenziffern . . .
Erwähnte ich eigentlich schon, daß wir auch allerlei getan haben, in unserer kleinen
Stadt, um das kultureile Leben wieder auf die Beine zu stellen? Natürlich nicht!
Also: da haben wir nicht nur eine Volkshochschule und eine große Bücherei eröffnet,
sondern auch schon Kunstausstellungen veranstaltet. Wir haben hervorragende Künstler
vor leerem und viel Tingeltangel vor berstendem Theatersaal spielen lassen.
Sogar ein eigenes Stadttheater besaßen wir. t)as ist aber auch schon eine Weile her.
Der eine der Herren Direktoren war ein ehemaliger Chorsänger, der sich zufällig in
unsere kjeine Stadt verirrt hatte — det andere glänzte durch den Doktortitel, mit
dem er sich sr gern ansprechen ließ, ohne daß er dazu berechtigt gewesen wäre,. Der
Knall kam dann auch. Einige Wochen nach der Premiere. Nachdem nicht nur alle
Einnahmen verwirtschaftet, sondern vor allem Schulden in sechsstelligen Zahlen gemacht
worden waren. Die Bürger unserer kleinen Stadt waren völlig sprachlos darüber, denn
sie hatten doch immer alle Plätze dicht besetzt und sogar die Abonnements hatten sie
für ein halbes Jahr im voraus bezahlt. Aber sie konnten natürlich nicht ahnen, daß \
die Herren Direktoren eine leidenschaftliche Vorliebe für Chesterficlds etc. sowie für
Stargehälter und Spesen in der Art, wie sie ein Außenminister zu bekommen pflegt,
gewonnen hatten.
Nun, ja — da wurde also aus dem Herrn Theaterdirektor wieder ein simpler Privat-
mann und aus den vertrauenseligen Geldgebern wurden reuige Gläubiger. Was sonst
58
noch keine Eisenbahn mitten durch unsere
kleine Stadt fuhr, wäre es keinem Men-
schen eingefallen, etwas über sie zu schrei-
ben. Es hätte sich nicht gelohnt.
Damals gingen die Bürger noch ausschließlich ihrem Berufe nach. Sie füllten die Kirche
zur Andacht und leerten die Maßkrüge in den Wirtschaften. Im Physiksaal der Real-
schule wurde damals noch Physik gelehrt, im Finanzgebäude errechneten die Beamten
winzige Steuersätze und- im Vorsteherzimmer des Postamtes -saß der Herr Postvorsteher
und erfüllte seine Pflicht, während der Herr Pfarrer jene segnete, die in den geräu-
migen Bürgerwohnungen zur Welt gekommen oder aber von ihr gegangen waren.
Ja, so war das damals.
In der Prinzregentenstraße, jener Straße also, durch die seinerzeit die Eisenbahn nach
München schnaufte, steht heute ein gewaltiger Wohnhausblock, in dem sich ein Kino
befindet. In ihm sah ich gestern Thornton Wilders „Unsere kleine Stadt". Sicherlich
kennen Sie diesen Film schon und werden mir bestätigen, daß er die Atmosphäre einer
nordamerikanischen Kleinstadt überzeugend und leicht verständlich eingefangen hat.
Aber unsere kleine Stadt konnte diese kleine Stadt nicht verdauen. Oder sagen wir
einmal die Art, in der sie ihr gezeigt wurde. Der sympathische Eiscremesodahändler,
der sich freundlicherweise als Fremdenführer zur Verfügung gestellt hatte, wirkte auf
unsere Bürger wie ein Hanswurst aus der seligen Zeit einer Neuberin. Die Prozession
regentriefender Schirme, die zum Bergfriedhof zog, errang einen ausgesprochenen
Heiterkeitserfolg, während die Traumvisionen der Gebärenden ein Pfeifkonzert aus-
zulösen vermochten.
Der Herr neben mir sah sich erstaunt um und wandte sich in einem Akzent, der das
große Wasser ahnen ließ, über das er nach Deutschland gekommen war, an mich und
fragte, warum denn die vielen Leute aufstünden und das Kino verließen.
„Sie wissen mit dieser kleinen Stadt nichts anzufangen", erwiderte ich ihm. „Sie
haben einen Film dieser Art noch nicht gesehen. Und auch auf unserer heimatlichen
Bauernbühne, die den Maßstab für das kulturelle Niveau unserer kleinen Stadt dar-
stellt, wurde Ahnliches noch nicht gezeigt. Das Neue und vielleicht Richtunggebende
an der Gestaltung dieses Films erkennen unsere Bürger nicht. Und würden sie es
erkennen, würden sie es trotzdem ablehnen, weil eben unsere kleine Stadt eine andere
ist als die da vorn auf der Leinwand."
,;Eine andere Stadt...?" wiederholte der Fremde nachdenklich.
„Ja. Wenigstens heute."
„Das ist sehr interessant", meinte der Herr neben mir. „Da muß ich mir diese kleine
Stadt einmal genau anschauen."
„Tun Sie es doch! Und wenn es Ihnen recht ist, will ich Sie gern führen."
„Oh — das ist sehr freundlich von Ihnen. Ich nehme Ihr Angebot gern an."
Der Kinosaal war bis auf drei Besucher leer geworden. Obgleich der sympathische
Eiscremesodahändler seinen Gute-Nacht-Gruß noch lange nicht entboten hatte.' Zwei
der Basucher waren wir. Der dritte saß vor uns und . .. schlief.
Schließlich fiel der Vorhang zum letztenmal, denn der Film mußte wegen schlechten
Besuchs nach drei Tagen abgesetzt werden.
Und nun habe ich mich mit dem fremden Herrn wiedergetroffen, um ihm bei Tages-
licht unsere kleine Stadt zu zeigen.
„Sehen Sie — das hier ist der Ludwigsplatz. Hierher kamen, früher die Bauern aus
der Umgebung, um ihre Erzeugnisse anzubieten, deren Preise sie um die Hälfte senkten,
wenn sie die Eier und Butter, das Obst und Geflügel nicht los wurden. Aber auch das
ist schon eine ganze Weile her. ..
Dort drüben liegt das Postamt, auf dem man zuweilen Briefmarken, und wenn man
Glück hat, sogar Postkarten kaufen kann. Der Flüchtlingskomtnissar, der heute im
Zimmer des Herrn Postvorstehers amtiert, ist dafür allerdings nicht verantwortlich zu
machen, obgleich er sonst an allem Schuld trägt, was in unserer kleinen Stadt geschieht.
Und jetzt kommen wir gleich zum Hauje des Herrn Stadtpfarrers. Sie haben vielleicht
davon gehört, daß er vor einiger Zeit zahlreichen zugereisten Bürgern den Segen zur
heiligen Ehe gegeben hat, obgleich sie aus Unkenntnis versäumt hatten, vorher zum
Standesamt zu gehen und nun viele uneheliche Kinder haben. Doch sie sind nicht die
einzigen in unserer kleinen Stadt.
Ja, und da drüben steht die Polizeiwache — und das hier ist das Amtsgericht. Ein
schöner und imposanter Bau, nicht wahr? Hier haben sich im Laufe der Zeit alle
Bürger verantworten müssen, die mit dem Gesetz in Konflikt gekommen waren. Der
Milchhändler aus der Stollstraße, dem etliche Zentner Butter abhanden gekommen
waren, die Krämersfrau, die Zucker gegen Geräuchertes tauschte, der Buchdrucker, bei
dem man mehr Schmuck und Lebensmittel vorgefunden hatte, als ein Mensch an Händen
und Füßen zu tragen vermag beziehungsweise innerhalb eines Jahres zu verdauen im-
stande ist, und der Herr Redakteur, der ganz vergessen hatte, daß er seinerzeit nicht
wegen seiner politischen Einstellung, sondern wegen seiner Selbstverstümmelung als
Soldat zum Tode verurteilt worden war.
Kommen Sie doch bitte einmal mit hinauf in den zweiten Stock. Von dort aus hat
man einen schönen Blick, auf unsere kleine Stadt.
Sehen Sie — dort steht das Haus, in dem das erste Nogerbaby geboren wurde. Die
Häuser, in deneri"die späteren Mohrenkinder zur Welt kamen, liegen weiter hinten ...
Da, wo das Holz auf dem Balkon liegt, wohnt ein einstmals sehr berühmter Mann.
Er galt als Fliegerheld und besitzt noch heute das Ritterkreuz. Soviel ich weiß, kann
man bei ihm jetzt Fotoapparate kaufen. Fabrikneue Retinas, beispielsweise. Sie
kennen dieses Fabrikat, auf das so viele Arzte und Berufsfotografen seit Jahren war-
ten, ohne, die Aussicht zu haben, eine dieser Kameras zu bekommen.
Wußten Sie schon, daß es in unserer kleinen Stadt viel Schnaps zu kaufen gibt? Es
handelt sich dabei um heimische Erzeugnisse. Sie werden in Küchen und Kellern aus
UND DAS IST UNSERE „KLEINE STADT"
VEREIN FLU KUNST UND WISSENSCHAFT E. V.
Die für den 27. Januar 1948 geplante Aufführung von Thornton Wilder:
Unsere kleine Stadt
muß verschoben werden!
Neuer Termin wird bekannt gegeben.
Gelöste Karten behalten GülligkeitI
DIESES PLAKAT ERSCHIEN JEDOCH IN HAMELN
Zucker und Obst hergestellt. Meistens wohl
nachts. Dieser Schnaps wird vorwiegend
bei geschlossenen Veranstaltungen in un-
seren Tanzsalons konsumiert, bei denen sich
unsere Geschäftsleute vom Alltag ein wenig
erholen. In brokatenen Abendkleidern, von denen unsere populärste Schneiderin kürz-
lich vierzig Stück anfertigen mußte, als sich die prominenten Bürger unserer kleinen
Stadt zu einem bescheidenen Beisammensein im Ratskeller einfanden.
Die Häuser, die Sie da drüben sehen, bilden die Rückfront des Max-Josef-Platzes, mit
den Eingängen zu den Hinterräumen der vielen Geschäfte. Diese Eingänge benutzen
jene Bürger, die den Kauflcuten kleine Päckchen bringen und jene Päckchen abholen,
die im Laden beim besten Willen nicht zu haben sind und auch nicht wieder herein-
kommen. Der Herr dort wird sicherlich eiri solches Päckchen in seiner Aktentasche
haben . . .
Ach — und da geht ja auch die Frau Bäckermeister. Nein, nicht dort an der Rück-
front — da, in der Königstraße. Sie ist eine der bekanntesten Bürgerinnen in unserer
Stadt. Wer sie bisher nicht kannte, hörte kürzlich von ihr, daß sie sich geweigert .habe,
zwei alte Flüchtlinge in ihren leerstehenden Bodenkammern aufzunehmen. Die Brand-
versicherung hatte ihr schriftlich bestätigt, daß das Haus baufällig sei. Vorsichtshalber
aber hatte sie auch noch die Bknen aus den Fassungen geschraubt, um den kommenden
Ruinen jeglichen Nimbus der Kultur zu nehmen.
Und die Dame, die dort in die Rathausstraße einbiegt, ist Frau Mayer. Frau Mayer
wohnt im Salzstadel und hat eine Tochter. Das wäre an sich noch nichts Ungewöhn-
liches, wenn diese Tochter nicht einen ungewöhnlichen Namen trüge. Sie heilifc nämlich
Mrs. Hiroshima Hirasnima geb. Mayer und hat einen Soldaten geheiratet, dem sie
demnächst in seine Heimatstadt Honolulu tolgen will.
Der Herr mit der Aktenmappe unterm Arm, der gerade aufs Amtsgericht zukommt,
ist Rechtsanwalt Dr. König. Er gilt als guter Strafverteidiger und hat eine Frau, zwei
Kinder und ein Zimmer. In diesem Zimmer stehen zwei Batten, eine Wickelkommode,
ein Schreibtisch und ein Aktenschrank. Sie werden mir recht geben, daß das nicht
viel ist für einen tüchtigen Strafverteidiger. Und für einen namens König schon gar
nicht! Morgens einhält» acht Uhr bringt die Königin ihre Kleinen in den Kindergarten.
Anschließend beschäftigt sie sich bis zum Abend in der Küche des Wohnungsinhabers,
der ihr die Mitbenutzung erlaubt hat. Das muß so sein, weil der Herr Doktor ab
acht Uhr seine Klienten im Schlafzimmer, das ihm zugleich als Kanzlei dient, empfängt
und den Raum also für sich allein beansprucht.
Wollen wir uns doch den Max-Josef-Platz auch einmal von vorn ansehen. Er war vor
einem Jahr noch der .Platz der Treuhänder'. Die Inhaber der Läden am Max-Josef-
Platz saßen nämlich zum größten Teil hinter schwedischen Gardinen. Nein, nein —
sie hatten niemandem etwas zuleide getan. Nur mit ihren Fragebogen stimmte irgend
etwas nicht. Aber nun sind sie ja alle wieder da und kommen nun selber in den
Genuß der Kompensationsgeschäfte.
Schauen Sie — dort radelt gerade Herr Huber zum Postamt. Und wie schnell er in
die Pedale tritt! Das ist ein gutes Omen! Immer, wenn er schnell radelt, holt er
nämlich ein Amerika-Paket für die beiden alten Damen aus der Innstraße vonT Post-
amt. Diese beiden Damen bekommen zuweilen Zigaretten geschickt. Und da sie selber
Nichtraucher sind, verkaufen sie das Nicotica an unsem Dienstmann. Da hat dann die
halbe Stadt etwas davor. '
Die Dame in dem DKW, der unsern Dienstmann gerade überholt, ist die Inhaberin
einer unserer bestgehenden und leistungsfähigsten Schneiderwerkstatt. Im vergangenen
Jahr hat sie einmal Pech gehabt. Da brachen Spitzbuben in ihr Lager ein und stahlen
etliche Ballen Anzugstoff, kurz nachdem ein Heimkehrer zum zwanzigsten Male ver-
geblich versucht hatte, dreieinhalb Meter solchen Stoffes auf seinen Bezugschein zu
erstehen. Finanziell schrnt jedoch der Schaden nicht bedeutend gewesen zu sein, denn
die Dame kann trotzdem ihr Wohnhaus zu Ende bauen, so, wie der Herr Stadtrat, der
Herr Stadtbaurat und einige andere Große unserer kleinen Stadt.
In unserer kleinen Stadt leben heute dreißigtausend Seelen. Zwanzigtausend Menschen
und zehntausend Leute, die den Wunsch haben, noch Menschen werden zu können. Sie
tun, was in ihren Kräften steht, um dieses Ziel recht bald zu erreichen. Die Männer
arbeiten in den Eisenwerken und Fabriken, während die Frauen in der Lumpensortier-
anstalt schuften oder, sich ihren Lebensunterhalt mit Putzen verdienen, obgleich sie
früher einmal einen großen Bauernhof, eine eigene Bootswerft oder einen ansehnlichen
Handwerksbetrieb besaßen.
Die ganz Tüchtigen von ihnen stampften Tauschzentralen und Übersetzungsbüros oder
auch Gesellschaften zur Verwertung alten Wehrmachtgutes aus der Erde. Sie ver-
öffentlichten englische Lehrbücher für den Hausgebrauch oder pachteten sich eine
Druckerei — und wer entsprechend kräftige Ellenbogen oder die erforderlichen Be-
ziehungen besaß, tat beides gemeinsam.
Sie sehen also, daß heute manches anders ist, als es früher gewesen sein mag und als
die kleine Stadt auf der Filmleinwand zu zeigen vermochte. Viele unserer alten Bürger
sterben heute such nicht mehr in einem Bett, sondern auf einem mit Holzwolle gefüll-
ten Sack, der vielleicht im Konferenzzimmer einer höheren Schule oder in irgend einer
Baracke liegt. Inmitten von Lumpenbündcln, Pappkartons und anderen Resten einst-
maligen Reichtums.
Aber auch das neue Leben wird in diesen Orten geboren. Daß es überhaupt zu neuem
Leben kommt, mag zum Teil am Physiksaal der Realschule gelegen haben. In dieser
Schule hatten vor einiger Zeit zahlreiche Flüchtlinge (pardon: Neubürger!) ein Obdach
gefunden. Der Physiksaal, der einst wohl hundert Schülern Platz geboten hatte, war
von ihnen ausgeräumt worden. Bis auf den schwer zu transportierenden Experimen-
tiertisch. Sie kennen diese Art von Tischen mit den Wasserhähnen und den kurzen
Gummischläuchen daran . . . Vor dem Experimentiertisch hatten sie eine alte Matratze
und ein paar Decken gelegt. Und wer jung verheiratet war (oder es auf Grund des
'Segens durch den Herrn Stadtpfarrer zu sein annahm), besaß den Vorzug, sich im
Physiksaal einzuschließen und sich seinem Liebesglück hingeben zu können ... Ja, und
dann stiegen halt die Geburtenziffern . . .
Erwähnte ich eigentlich schon, daß wir auch allerlei getan haben, in unserer kleinen
Stadt, um das kultureile Leben wieder auf die Beine zu stellen? Natürlich nicht!
Also: da haben wir nicht nur eine Volkshochschule und eine große Bücherei eröffnet,
sondern auch schon Kunstausstellungen veranstaltet. Wir haben hervorragende Künstler
vor leerem und viel Tingeltangel vor berstendem Theatersaal spielen lassen.
Sogar ein eigenes Stadttheater besaßen wir. t)as ist aber auch schon eine Weile her.
Der eine der Herren Direktoren war ein ehemaliger Chorsänger, der sich zufällig in
unsere kjeine Stadt verirrt hatte — det andere glänzte durch den Doktortitel, mit
dem er sich sr gern ansprechen ließ, ohne daß er dazu berechtigt gewesen wäre,. Der
Knall kam dann auch. Einige Wochen nach der Premiere. Nachdem nicht nur alle
Einnahmen verwirtschaftet, sondern vor allem Schulden in sechsstelligen Zahlen gemacht
worden waren. Die Bürger unserer kleinen Stadt waren völlig sprachlos darüber, denn
sie hatten doch immer alle Plätze dicht besetzt und sogar die Abonnements hatten sie
für ein halbes Jahr im voraus bezahlt. Aber sie konnten natürlich nicht ahnen, daß \
die Herren Direktoren eine leidenschaftliche Vorliebe für Chesterficlds etc. sowie für
Stargehälter und Spesen in der Art, wie sie ein Außenminister zu bekommen pflegt,
gewonnen hatten.
Nun, ja — da wurde also aus dem Herrn Theaterdirektor wieder ein simpler Privat-
mann und aus den vertrauenseligen Geldgebern wurden reuige Gläubiger. Was sonst
58