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Fr. Bilek: AUGE IN AUGE

TOBIAS UND DIE PRODUKTIVEN

Als Tobias in einer Seitenstraße lustwandelte, hörte er plötzlich in einer
Ruine ein Winseln. Er ging dem Geräusch nach und sah, wie eine Ratte mit
Erfolg einen Zwerg an seinem langen weißen Bart in ihr Loch zu zerren
versuchte. Tobias, der als ein Mann von Welt stets einen eng gerollten Schirm
über dem Arm hängen hatte, schlug mit der Regenschutzvorrichtung auf das
greuliche Tier ein, das von seinem Opfer abließ und, als ob nichts geschehen
wäre, leise die „Caprifischer" durch die Zähne pfeifend in seiner Behausung
verschwand.

„Sie haben mir zum zweiten Male das Leben gerettet", sagte der Zwerg,
der kein anderer war als der Oberzauberer Abuhel, dankbar zu Tobias.
„Auch die Geisterwelt leidet unter Eiweißmangel und den damit verbundenen
Gedächtnisstörungen. So stand ich, da mir die Zauberformel gegen Wanzen,
Ratten und Vollstreckungsbeamte entfallen war, wehrlos dem Untier gegen-
über. Ihnen als meinem Retter sei ein Zauberspruch gewährt!"
„Ich will", sagte Tobias, „daß alle Menschen, die produktive Arbeit leisten,
bis auf Widerruf an Umfang gewinnen. Die Unproduktiven jedoch mögen
einschnurren." — „Es sei", sagte der wegen seiner pathetischen Kürze in
Zauberkreisen geschätzte Abuhel und war verschwunden.
Schon am anderen Morgen konnte man in der Stadt merkwürdige physika-
lische Veränderungen wahrnehmen. Arbeiter, die in die Fabrik eilten, hatten
beträchtlich an Leibesumfang gewonnen, während die zu späterer Stunde
gemächlich den Büros zustrebenden Verwaltungsbeamten wie Backpflaumen
einschrumpften. In manchen Berufskreisen hatten sich die Verhältnisse ins
Gegenteil verkehrt. Eingeschnurrte Verleger saßen aufgeblasenen Autoren
gegenüber. Dicke Maler verhandelten mit verhutzelten Kunsthändlern. Wohl
änderte sich das Volumen aller vom Zaubergesetz Betroffenen, nicht aber ihr
spezifisches Gewicht, was zu einer Reihe von Unfällen in Badeanstalten
führte. Der Lizenzträger eines christlichen Wochenblatts, der seine mora-
lische Uberzeugung an den Nagel eines Familienbads gehängt hatte, sackte im
Wasser unter Schrumpfungserscheinungen plötzlich ab. Ein Journalist, der
sich leicht gebläht hatte, konnte den teueren Lizenzträger nicht retten, da er
selbst wie ein Gummiball auf dem Wasser schwamm. Erst am Abend konnte
der Bedauernswerte in leblosem Zustand geborgen werden. Die Auflage der
Zeitschrift stieg.

Von Tag zu Tag wurden die Klassenunterschiede zwischen Produktiven und
Unproduktiven evidenter. Arbeiter und Handwerker kamen nicht mehr
durch die engen Türen der Straßenbahnen. Die Angestellten der Ernährungs-
ämter schrumpften fast so schlimm wie ihre Aufgaben. Der Präsident des
Fußballtotos verschwand beim Ablassen seines Badewassers durchs Abfluß-
rohr. Ärzte gingen auf wie Hefeklöße. Pippin Pustekuchen, ein notorischer
Nichtstuer, gewann zu Tobias' Verwunderung an Volumen. Tobias erklärte
sich dieses Phänomen damit, daß Pippin Vater von siebzehn Kindern war,
daß also seine Produktivität auf diesem Gebiet bei Abuhel außer Zweifel
stand. Pfarrer und Rechtsanwälte behielten den Status quo, während die
Insassen des Städtischen Irrenhauses wohl auf Grund ihrer produktiven

Phantasie beträchtlich an Umfang zunahmen. Kaufleute schrumpften wie
angestochene Luftballons. Bei den wackeren Landleuten setzte sich die vor-
währungsreformatorische Konjunktur auch äußerlich in die Augen fallend
fort. Die Zusammenkunft zwischen einem Kultusminister und einem Kompo-
misten mußte abgesagt werden, weil die Größenverhältnisse jetzt auch äußer-
lich so auffallend waren, daß eine Verständigung unmöglich gewesen wäre.
Höhere Töchter bis ins fünfte Jahrzehnt schrumpften wie die Bankkonten
nach der Währungsreform, während Tobias' Putzfrau den Dienst aufsagen
mußte, weil ihr Leibumfang das Bücken unmöglich machte. Klofrauen da-
gegen verhutzelten. Die freudespendenden Damen eines verrufenen Instituts
veränderten ihre Proportionen nicht. Hausfrauen aber verloren ihre Linien
und wurden täglich dicker und dicker.

Boxer und Fußballer mußten mangels Masse ihren Beruf aufgeben. Berufs-
soldaten gar wurden zu, mit dem bloßen Auge kaum mehr wahrnehmbaren
Punkten. Konsistorialräte, Politiker und die Angestellten' der Kranken-
kassen gingen ein wie Jedermann-Anzüge im Regen, während der Leibes-
umfang der Wissenschaftler ihrem schmalen Einkommen plötzlich umgekehrt
proportional war.

Schornsteinfeger versuchten vergeblich ihren Leibesumfang durch die schwar-
zen Öffnungen zu zwängen. Polizeiuniformen schlotterten ums Gebein.
Einzig die Polizeikapelle blieb bei Fleisch wie immer. Ein Zeichen, daß
Abuhel musisches Bemühen (spielte die Blaskapelle doch mit Vorliebe
Richard Wagner) und geistige Produktivität der körperlichen Leistung gleich-
setzte. Es war ein Glück, daß der Oberbürgermeister heimlich Oden schrieb.
Je heftiger er dichtete, um so vorteilhafter hob er sich von der in ihrer
Konsistenz bedrohten Stadtverwaltung ab.

Die Parteisekretäre schrumpften fast ebenso bedrohlich wie der Kredit der
Parteien bei der Bevölkerung. Es war gut, daß Abuhel sich mit seiner
Zauberei auf die bodenständige Bevölkerung beschränkte. Es wäre dem
Chronisten sonst schwer gefallen, mit dem nötigen Takt die Veränderungen
bei der Besatzungsmacht zu schildern.

Nach einer Woche hatte sich das Stadtbild völlig verändert. Hunde machten
sich eine Freude daraus, mit den schnurrigen Männchen zu spielen, nicht
ahnend, daß es hohe Regierungsbeamte waren. Eine Katze entführte gar den
Direktor des Finanzamts auf eine hohe Pappel, von wo er nur durch den
Zugriff eines ins Riesenhafte geblähten Bergmanns heruntergeholt werden
konnte. Tobias, der Zeuge dieses Vorfalls war, beschwor Abuhel, seine Maß-
nahmen wieder rückgängig zu machen. Punkt zwölf Uhr nachts geschah es.
Seitdem ist das Gleichgewicht in der Stadt wieder hergestellt. Einige arbei-
ten produktiv, der größere Teil aber verwaltet, handelt, managt, verwirt-
schaftet und plant. Die Unproduktiven unterscheiden sich von den Produk-
tiven äußerlich nur noch durch ihre bessere Kleidung.

*

Anmerkung: Tobias hätte sich wünschen sollen, daß nur die Unproduktiven
schrumpfen, die Produktiven jedoch ihr Volumen behalten. Es wäre eine
große Chance für die Stadt gewesen, wenn er diesen Wunsch nicht wider-
rufen hätte. Allerdings wäre dann der Direktor des Finanzamts wahrschein-
lich von der Katze verspeist worden. Thaddäus Troll

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Bildbeschreibung

Werk/Gegenstand/Objekt

Titel

Titel/Objekt
"Auge in Auge"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Der Simpl: Kunst - Karikatur - Kritik
Sachbegriff/Objekttyp
Grafik

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Aufbewahrung/Standort

Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Universitätsbibliothek Heidelberg
Inv. Nr./Signatur
G 5442-11-5 Folio RES

Objektbeschreibung

Maß-/Formatangaben

Auflage/Druckzustand

Werktitel/Werkverzeichnis

Herstellung/Entstehung

Künstler/Urheber/Hersteller (GND)
Bilek, Franziska
Entstehungsort (GND)
München

Auftrag

Publikation

Fund/Ausgrabung

Provenienz

Restaurierung

Sammlung Eingang

Ausstellung

Bearbeitung/Umgestaltung

Thema/Bildinhalt

Thema/Bildinhalt (GND)
Karikatur
Satirische Zeitschrift

Literaturangabe

Rechte am Objekt

Aufnahmen/Reproduktionen

Künstler/Urheber (GND)
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Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
Alle Rechte vorbehalten - Freier Zugang
Creditline
Der Simpl, 4.1949, Nr. 13, S. 146.
 
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