Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Staehlin, Rudolf
Das Motiv der Mantik im antiken Drama — Giessen: Toepelmann, 1912

DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.74897#0074
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
64

Rudolf Staehlin

für Aischylos insoweit, als es mit dem apollinischen Orakel-
spruch motiviert ist; schwerlich hat Aischylos es ganz unter-
lassen, die Figur des Teiresias — die dem alten Epos an-
gehört — zu verwenden { Über die Ursache zu dem auf den
Labdakiden lastenden Verhängnis erfahren wir bei Sophokles
nichts: das ist in seiner Kompositionsart, die nur noch Einzel-
dramen kennt 2, und in seiner in der ganzen Tragödie zum
Ausdruck kommenden grausamen Tragik3 begründet, die sich
nicht um Schuld kümmert. Der unendlich tragische Zug der
Tragödie, daß Oidipus im Bestreben, der Erfüllung des ihm
soeben erst von der Pythia gewordenen Orakels zu entgehen,
geradewegs dem Vatermord und der Blutschande entgegeneilt,
ist erst von Sophokles ins Drama aufgenommen, vielleicht von
Eberswalde 1890, 5,' gewiß mit Unrecht. Rein grammatisch sind beide
Auffassungen möglich, aber sachlich ist die von Klein vertretene Meinung
abzuweisen. Denn einmal würde dann Sophokles von der von seinem Vor-
gänger Aischylos fixierten Mythengestaltung gar nicht abweichen, was an
sich schon unwahrscheinlich ist, zum anderen dürfen wir m. E. auf eine
kategorische, nicht hypothetische Form des an Laios erteilten Orakels
schließen aus seinem Korrelat, dem Spruch des Loxias, den Oidipus er-
halten hat; daß dieser Spruch hypothetisch gewesen sei, wird niemand be-
haupten. Siehe auch von Wilamowitz, Hermes XXXIV 55.

1 Denn in den Septem (24) erwähnt er den pavres mit solchem Nach-
druck, daß wir ohne weiteres Teiresias darunter denken müssen (das ist
auch die Meinung des Scholions zur Stelle); dann ist es, da er nicht mit
Namen genannt ist, nicht unwahrscheinlich, daß er schon in den beiden
ersten Stücken der Trilogie, im „Laios" und „Oidipus", eine Rolle spielte.

2 Vgl. Susemihl, Zeitschrift für die Altertumswissenschaft 1857 Sp. 102.

3 Auf den Streit, ob die wahre Tragik in dem Mißverhältnis zwischen
„Schuld" und „Strafe" bestehe und gerade in einem unverdienten Leiden
des Helden beruhe, oder nicht, lasse ich mich hier nicht ein. Verlangt
man für die Tragik eine angemessene ethische Begründung des Unglücks,
wie es ü. a. Klein, Geschichte des Dramas I 326, und besonders nach-
drücklich Günther, Grundzüge der tragischen Kunst, tun, so ergibt sich,
daß Sophokles von der wahren Tragik nichts verstanden hat. Mit dieser
Konsequenz ist auch die Frage m. E. entschieden. Sophokles hat mit Recht
Verteidiger gefunden, u. a. in Hasper, Die Feinheit der Ökonomie und der
Charakterzeichnung in den Dramen des Sophokles, Progr. Großglogau 1882;
H. F. Müller, Was ist tragisch? Ein Wort für Sophokles. Progr. d. Gym-
nasiums Blankenburg 1887, vor allem aber auch in Nietzsche, der (Philo-
logica I 320 der Großoktavausgabe) sagt: „Tragisch ist die Weltanschauung
nur bei Sophokles".
 
Annotationen