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Rudolf Staehlin
Stätte des Trophonios gegangen, um ihn voller Ungeduld über
den Erfolg der Reise nach Delphi zu befragen (300); er trifft
erst dann in Delphi ein, als Ions und Kreusas Unterredung
zu Ende ist (405).
Trophonios hat die Erteilung eines präzisen Spruches
Apollon überlassen 1 (408):
"Ev d'ovv etaev, oux änaidd fie
7tQog olxov ^&iv oude a' ex %QY]Gqoicov 2.
In Kreusa erregt dieses Orakel neue, aber zweifelhafte
Hoffnung 3, und sie richtet ihr Gebet an Apollon.
Dann tritt Xuthos in das Heiligtum ein, um von der
Pythia Bescheid zu erhalten. Die Antwort lautet: derjenige,
der dem König beim Verlassen des Tempels zuerst begegnen
werde, sei sein Sohn, ein Geschenk, doch von ihm entsprossen
(534 ff.); nach der Mutter zu fragen hat Xuthos unterlassen
(541). Demgemäß begrüßt der König Ion als seinen Sohn.
Der Orakelspruch, amphibolisch oder zum mindesten undeut-
lich 4 gehalten, lenkt die Aufmerksamkeit des Xuthos auf
1 Es kam offenbar öfters vor, daß eine Orakelstätte die Fragenden
auf eine andere Orakelstätte verwies. Pausanias IX 40 erzählt uns gerade
den umgekehrten Fall wie hier im Ion: bei einer zweijährigen Dürre wenden
sich die Boioter an das delphische Orakel; die Pythia sagt ihnen, sie
würden bei Trophonios Hilfe finden.
2 Man wird schwerlich zustimmen, wenn Ermatinger (Neue Jahrbücher
V 1900 S. 141) sagt: „Trophonios, der in priester-schlauer Weise dem Spruch
des Apollon nicht vorgreifen wollte". Ermatinger legt dadurch eine Kritik
des Verhaltens des Trophonios hinein, die Euripides vielleicht nicht be-
rabsichtigt hat. Der Grund, warum Euripides den Trophonios nur ein so
allgemein gehaltenes Orakel geben läßt, liegt klar zutage: es darf nur
soviel Licht auf das Trophoniosorakel fallen, als gerade nötig ist; alle
anderen Lichtstrahlen müssen auf das Orakel Apollons konzentriert werden.
Nachdem das Motiv der Befragung des Trophonios seinen Zweck — Allein-
sein des Ion und der Kreusa — erreicht hat, braucht es der Dichter nur
noch ganz oberflächlich zum Abschluß zu bringen durch die Mitteilung des
erhaltenen kurzen Bescheides; die Antwort des Gottes dem Zuschauer
gänzlich vorzuenthalten, ging wohl nicht gut an. Apollon soll im Drama
die „wichtigste Person" werden (Wieland aaO. 136).
3 G. Hermann in der praefatio seines Ion (Leipzig 1827) 40.
4 Ich möchte W. Nestle (Euripides, der Dichter der griechischen Auf-
klärung, 74) nicht ganz beistimmen, wenn er meint, das delphische Orakel
Rudolf Staehlin
Stätte des Trophonios gegangen, um ihn voller Ungeduld über
den Erfolg der Reise nach Delphi zu befragen (300); er trifft
erst dann in Delphi ein, als Ions und Kreusas Unterredung
zu Ende ist (405).
Trophonios hat die Erteilung eines präzisen Spruches
Apollon überlassen 1 (408):
"Ev d'ovv etaev, oux änaidd fie
7tQog olxov ^&iv oude a' ex %QY]Gqoicov 2.
In Kreusa erregt dieses Orakel neue, aber zweifelhafte
Hoffnung 3, und sie richtet ihr Gebet an Apollon.
Dann tritt Xuthos in das Heiligtum ein, um von der
Pythia Bescheid zu erhalten. Die Antwort lautet: derjenige,
der dem König beim Verlassen des Tempels zuerst begegnen
werde, sei sein Sohn, ein Geschenk, doch von ihm entsprossen
(534 ff.); nach der Mutter zu fragen hat Xuthos unterlassen
(541). Demgemäß begrüßt der König Ion als seinen Sohn.
Der Orakelspruch, amphibolisch oder zum mindesten undeut-
lich 4 gehalten, lenkt die Aufmerksamkeit des Xuthos auf
1 Es kam offenbar öfters vor, daß eine Orakelstätte die Fragenden
auf eine andere Orakelstätte verwies. Pausanias IX 40 erzählt uns gerade
den umgekehrten Fall wie hier im Ion: bei einer zweijährigen Dürre wenden
sich die Boioter an das delphische Orakel; die Pythia sagt ihnen, sie
würden bei Trophonios Hilfe finden.
2 Man wird schwerlich zustimmen, wenn Ermatinger (Neue Jahrbücher
V 1900 S. 141) sagt: „Trophonios, der in priester-schlauer Weise dem Spruch
des Apollon nicht vorgreifen wollte". Ermatinger legt dadurch eine Kritik
des Verhaltens des Trophonios hinein, die Euripides vielleicht nicht be-
rabsichtigt hat. Der Grund, warum Euripides den Trophonios nur ein so
allgemein gehaltenes Orakel geben läßt, liegt klar zutage: es darf nur
soviel Licht auf das Trophoniosorakel fallen, als gerade nötig ist; alle
anderen Lichtstrahlen müssen auf das Orakel Apollons konzentriert werden.
Nachdem das Motiv der Befragung des Trophonios seinen Zweck — Allein-
sein des Ion und der Kreusa — erreicht hat, braucht es der Dichter nur
noch ganz oberflächlich zum Abschluß zu bringen durch die Mitteilung des
erhaltenen kurzen Bescheides; die Antwort des Gottes dem Zuschauer
gänzlich vorzuenthalten, ging wohl nicht gut an. Apollon soll im Drama
die „wichtigste Person" werden (Wieland aaO. 136).
3 G. Hermann in der praefatio seines Ion (Leipzig 1827) 40.
4 Ich möchte W. Nestle (Euripides, der Dichter der griechischen Auf-
klärung, 74) nicht ganz beistimmen, wenn er meint, das delphische Orakel