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Staehlin, Rudolf
Das Motiv der Mantik im antiken Drama — Giessen: Toepelmann, 1912

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https://doi.org/10.11588/diglit.74897#0160
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Rudolf Staehlin

Erteilung einer Antwort genügt nicht, es müssen ihr grauen-
erregende Zeichen vorausgehen ^ der Spruch, im originalen
hexametrischen Maß wiedergegeben, redet den Mörder direkt
an. Das Orakel hatte bei Sophokles Verbannung oder Tötung
des Mörders verlangt; bei Seneca ist nur von Verbannung
die Rede2. Der Grund ist m. E. durchsichtig: die Version,
daß Oedipus ins Exil geht, hatte durch Sophokles im „Oidipus
auf Kolonos" ihre volle Ausprägung erhalten, so daß man
schwerlich mehr an die zweite Alternative dachte.
Ebenso zeigt die Teiresiasszene den echten Geist des
Seneca: ihm genügt ein bloßer Bericht über die mancherlei
mantischen Zeichen nicht mehr; die Beobachtung der Zeichen
wird unmittelbar auf der Bühne selbst dargestellt ", ein Vor-
gang, zu dem wir keine Parallele in einem zweiten antiken
Drama aufweisen können, man müßte denn etwa an die
Totenbeschwörung in den „Persern" denken, die ja auch auf
der Bühne selbst vorgenommen wird. Seneca zieht alle mög-
lichen Mittel bei, die der kunstgerechten Mantik zur Ver-
fügung stehen; von ihren wichtigeren Arten wird, wenn ich
recht sehe, nur die Oionoskopie nicht verwendet, aber doch
wenigstens gestreift (390)4. Die Pyromantie, Kapnomantie
und Hieroskopie ist in einer ganz ungewöhnlichen Ausführ-
lichkeit und Genauigkeit behandelt; Gronov (zur Stelle) sagt:
Cui (sc. descriptioni) similem apud alias scriptores non invenio.
Das Bedürfnis, nicht als bloßer Nachahmer des Sophokles zu

1 Daß beim Betreten eines Tempels solche Zeichen geschehen, wird
öfters bezeugt, z. B. Vergil Aeneis III 90 (geht nach Norden, Kommentar
zu VI S. 138 auf den Anfang des kallimacheischen Apollonhymnus zurück);
Cicero de div. I § 101, Livius VI 33, 5; Tacitus hist. V 13. Siehe Heinze
aaO. 304 Anm. 1.

2 Braun, Rhein. Mus. XXII 247.

3 Zu diesem Zweck muß die Gehilfin des Sehers, seine Tochter Manto,
die Euripides als stumme Figur einführte (Phoinissen 834), während So-
phokles (Antigone 1012 ff.) dem Teiresias einen Knaben beigegeben hatte,
zur redenden Figur werden. Vgl. über die Szene Klein aaO. und Birt, Was
hat Seneca mit seinen Tragödien gewollt? Neue Jahrbücher 1911, 344 ff.

4 Das hat vielleicht seinen Grund darin, daß offenbar in der ersten
Kaiserzeit die Beobachtung der Vogelzeichen außer Übung gekommen war;
siehe Heinze aaO. 309.
 
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