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Rudolf Staehlin
gräßlichen Bild schweifen; auch sie selbst, das weiß sie wohl,
muß stets in der Furcht schweben, dasselbe Schicksal wie
ihr Bruder zu erleiden. Da ist es nicht verwunderlich, daß
diese Gedanken, teils Erinnerungen, teils Befürchtungen, im
Schlaf wiederkehren und sich zu Träumen verdichten. Ein
feiner Zug ist es auch, wenn der Dichter nicht nur einmal
den Traum kommen, sondern öfters sich wiederholen läßt: das
zeugt für die Intensität, mit der Octavia an das Schicksal
ihres Bruders und an ihr eigenes denkt.
Die Träume erhöhen nur noch mehr die steten Be-
fürchtungen Octavias um ihr Leben, und für die Zuschauer
werden sie zu Erregern angstvoller Spannung. Sie lassen
uns zugleich — ähnlich wie der Traum der taurischen Iphi-
geneia — einen Blick tun in den Seelenzustand der Un-
glücklichen.
Als unheilkündendes Moment kommt zum Traum noch
ein Prodigium: am nördlichen Himmel hat Octavia einen Ko-
meten erblickt (231 ff.), ein auch von Tacitus 1 und von Seneca 2
berichtetes Zeichen. Der allbekannte Volksglaube, der sich
an das Erscheinen von Kometen knüpft, mag hier nur durch
das Zeugnis des Tacitus (aaO.) und des Sueton (Nero Kap. 36)
belegt werden 3.
Doch auch das Gegenspiel, Poppaea, wird durch ein Zeichen
erschreckt. In vergangener Nacht, der ersten nach ihrer
offiziellen Vermählung mit Nero, träumt sie (712 ff.), das Braut-
gemach werde von einer traurig klagenden Schar um-
lagert: die römischen Matronen — die Gespielinnen der
Poppaea — schlagen sich mit aufgelösten Haaren die Brüste.
Agrippina schwingt unter furchtbarem Trompetenton4 eine
blutbespritzte Fackel; unwillkürlich dazu gezwungen, folgt
Poppaea der Kaiserin-Mutter — da plötzlich klafft vor ihr
ein Abgrund: sie stürzt hinab und sinkt dort auf ihr Ehebett
nieder. Da sieht sie ihren einstigen Gatten Crispinus und
1 Annalen XIV 12. 2 Quaestiones naturales VII 21, 3.
3 Siehe Gundel De stellaruni appellatione et religione Romana 141 ff.
(RGVV III 233 ff.).
4 Swoboda aaO. III 371 bemerkt, daß die Schatten unter dem Klang
der Tuba auf der acherontischen Stiege des Theaters zur Bühne emporstiegen.
Rudolf Staehlin
gräßlichen Bild schweifen; auch sie selbst, das weiß sie wohl,
muß stets in der Furcht schweben, dasselbe Schicksal wie
ihr Bruder zu erleiden. Da ist es nicht verwunderlich, daß
diese Gedanken, teils Erinnerungen, teils Befürchtungen, im
Schlaf wiederkehren und sich zu Träumen verdichten. Ein
feiner Zug ist es auch, wenn der Dichter nicht nur einmal
den Traum kommen, sondern öfters sich wiederholen läßt: das
zeugt für die Intensität, mit der Octavia an das Schicksal
ihres Bruders und an ihr eigenes denkt.
Die Träume erhöhen nur noch mehr die steten Be-
fürchtungen Octavias um ihr Leben, und für die Zuschauer
werden sie zu Erregern angstvoller Spannung. Sie lassen
uns zugleich — ähnlich wie der Traum der taurischen Iphi-
geneia — einen Blick tun in den Seelenzustand der Un-
glücklichen.
Als unheilkündendes Moment kommt zum Traum noch
ein Prodigium: am nördlichen Himmel hat Octavia einen Ko-
meten erblickt (231 ff.), ein auch von Tacitus 1 und von Seneca 2
berichtetes Zeichen. Der allbekannte Volksglaube, der sich
an das Erscheinen von Kometen knüpft, mag hier nur durch
das Zeugnis des Tacitus (aaO.) und des Sueton (Nero Kap. 36)
belegt werden 3.
Doch auch das Gegenspiel, Poppaea, wird durch ein Zeichen
erschreckt. In vergangener Nacht, der ersten nach ihrer
offiziellen Vermählung mit Nero, träumt sie (712 ff.), das Braut-
gemach werde von einer traurig klagenden Schar um-
lagert: die römischen Matronen — die Gespielinnen der
Poppaea — schlagen sich mit aufgelösten Haaren die Brüste.
Agrippina schwingt unter furchtbarem Trompetenton4 eine
blutbespritzte Fackel; unwillkürlich dazu gezwungen, folgt
Poppaea der Kaiserin-Mutter — da plötzlich klafft vor ihr
ein Abgrund: sie stürzt hinab und sinkt dort auf ihr Ehebett
nieder. Da sieht sie ihren einstigen Gatten Crispinus und
1 Annalen XIV 12. 2 Quaestiones naturales VII 21, 3.
3 Siehe Gundel De stellaruni appellatione et religione Romana 141 ff.
(RGVV III 233 ff.).
4 Swoboda aaO. III 371 bemerkt, daß die Schatten unter dem Klang
der Tuba auf der acherontischen Stiege des Theaters zur Bühne emporstiegen.