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Rudolf Staehlin
Beziehung steht zur Wurzel des antiken Dramas überhaupt,
zur Religion1. Das ist zwar gewiß nicht das entscheidende,
aber zum mindesten ein mitbestimmendes Moment gewesen;
wäre das Motiv der Mantik geradezu unverträglich mit dem
religiösen Charakter des antiken Dramas gewesen, so hätte
es sicherlich nicht die enorme Rolle zugewiesen bekommen,
die es tatsächlich einnimmt.
Die unmittelbare Wurzel des Motivs ist, wie gesagt, das
Epos, nicht Religion und Kultus, deren Bedeutung für die
Entstehung der antiken Tragödie Albrecht Dieterich in seinem
letzten Aufsatz 2 dargelegt hat.
Aischylos hat das Motiv virtuos gehandhabt, aber doch
niemals bloß als spielender Künstler, sondern stets auch als
ernster und gläubiger Mann, der vom Wert der Mantik im
Innersten überzeugt ist — er mißt ihr praktisch eine ungleich
größere Bedeutung bei als Sophokles, wenn er z. B. die Orakel
nicht als bloße Prophezeiungen eines unabänderlichen Schicksals,
sondern als wirklich befolgbare Warnungen und Mahnungen
auffaßt — , und bei der Anwendung des Motivs wahrhaft religiös-
didaktische, aber auch eminent künstlerische Zwecke verfolgt.
All' die einzelnen Züge, die wir bei der Verwendung des
Divinationsmotivs im antiken Drama kennen lernten, finden
sich zum mindesten in nuce schon in den Dramen des Aischylos;
in vielen von diesen Dingen hat kein antiker Bühnendichter
den genialen Mann erreicht, geschweige denn übertroffen.
Das Divinationsmotiv ist oftmals in kausale Verbindung
gebracht mit einer Anagnorisis: entweder hilft das Motiv den
Anagnorismus herbeiführen oder aber es verzögert ihn und
kompliziert damit die Handlung. Das erstere sehen wir in
den „Choephoren“. — Die Glaubwürdigkeit einer Prophezeiung
wird durch Verkündigung bereits eingetretener Ereignisse
erhöht. Dieser beim Divinationsmotiv stehende Zug erscheint
1 Im besonderen stehen die wichtigsten Zweige der Mantik, Orakel-
wesen und Seherkunst, in engster Beziehung zwar nicht zu Dionysos, dem
Herrn des athenischen Theaters, aber zu Apollon, und hier darf man an
das innige freundschaftliche Verhältnis der beiden einander einst feindlichen
Gottheiten erinnern. Vgl. Rohde, Psyche4 II 52 ff.
2 Archiv für Religionswissenschaft XI (1908) 163 ff.; Kleine Schriften 415ff.
Rudolf Staehlin
Beziehung steht zur Wurzel des antiken Dramas überhaupt,
zur Religion1. Das ist zwar gewiß nicht das entscheidende,
aber zum mindesten ein mitbestimmendes Moment gewesen;
wäre das Motiv der Mantik geradezu unverträglich mit dem
religiösen Charakter des antiken Dramas gewesen, so hätte
es sicherlich nicht die enorme Rolle zugewiesen bekommen,
die es tatsächlich einnimmt.
Die unmittelbare Wurzel des Motivs ist, wie gesagt, das
Epos, nicht Religion und Kultus, deren Bedeutung für die
Entstehung der antiken Tragödie Albrecht Dieterich in seinem
letzten Aufsatz 2 dargelegt hat.
Aischylos hat das Motiv virtuos gehandhabt, aber doch
niemals bloß als spielender Künstler, sondern stets auch als
ernster und gläubiger Mann, der vom Wert der Mantik im
Innersten überzeugt ist — er mißt ihr praktisch eine ungleich
größere Bedeutung bei als Sophokles, wenn er z. B. die Orakel
nicht als bloße Prophezeiungen eines unabänderlichen Schicksals,
sondern als wirklich befolgbare Warnungen und Mahnungen
auffaßt — , und bei der Anwendung des Motivs wahrhaft religiös-
didaktische, aber auch eminent künstlerische Zwecke verfolgt.
All' die einzelnen Züge, die wir bei der Verwendung des
Divinationsmotivs im antiken Drama kennen lernten, finden
sich zum mindesten in nuce schon in den Dramen des Aischylos;
in vielen von diesen Dingen hat kein antiker Bühnendichter
den genialen Mann erreicht, geschweige denn übertroffen.
Das Divinationsmotiv ist oftmals in kausale Verbindung
gebracht mit einer Anagnorisis: entweder hilft das Motiv den
Anagnorismus herbeiführen oder aber es verzögert ihn und
kompliziert damit die Handlung. Das erstere sehen wir in
den „Choephoren“. — Die Glaubwürdigkeit einer Prophezeiung
wird durch Verkündigung bereits eingetretener Ereignisse
erhöht. Dieser beim Divinationsmotiv stehende Zug erscheint
1 Im besonderen stehen die wichtigsten Zweige der Mantik, Orakel-
wesen und Seherkunst, in engster Beziehung zwar nicht zu Dionysos, dem
Herrn des athenischen Theaters, aber zu Apollon, und hier darf man an
das innige freundschaftliche Verhältnis der beiden einander einst feindlichen
Gottheiten erinnern. Vgl. Rohde, Psyche4 II 52 ff.
2 Archiv für Religionswissenschaft XI (1908) 163 ff.; Kleine Schriften 415ff.