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Staehlin, Rudolf
Das Motiv der Mantik im antiken Drama — Giessen: Toepelmann, 1912

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https://doi.org/10.11588/diglit.74897#0120
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110 Rudolf Staehlin

Um die Mordtat an der Mutter noch grauenvoller zu
machen, steigert der Dichter den herben Charakter der sopho-
kleischen Elektra ins Unmenschliche: zu diesem Zweck schaltet
er bei ihr jeden Einfluß Apollons aus und läßt sie ganz aus
eigenem Antrieb handeln (1303 f.).
Mit Vers 399 f., die dem Orestes gelten (i'crcog d'av elSor
Ao^lov yag e^Ttedoi | xq^g^ol, ß^orOv de ^avrcqv %aiQeiv ew)
deutet Elektra unverkennbar einen ihr von Loxias gewordenen
Spruch an, der die Heimkehr des Orestes weissagt. Dieses
Motiv dient zur Erzielung einer gewissen Spannung beim
Zuschauer und ist wohl Erfindung des Euripides.
Das von seinen beiden Vorgängern benutzte und daher
kaum nochmals anwendbare Traummotiv hat Euripides voll-
ständig aufgegeben; damit fallen auch seine weiteren Folgen,
wie wir sie in den Choephoren und der Elektra des Sophokles
kennen gelernt haben. Einen Ersatz 2 hat Euripides ge-
schaffen einmal in der eben erwähnten Andeutung eines Orakels
und dann vor allem in der Einführung des Vorzeichens, das
Aigisthos aus den Eingeweiden des Opfertieres erhält (826 ff.).
Der Dichter arbeitet hier seinem Charakter als z^a/ix^zawg
entsprechend und im Bestreben, gegenüber seinen Vorgängern
an Wirkung nicht allzusehr zurückzustehen, mit der auf-
regendsten, aber auch gröbsten Verwendungsweise des gött-

1 Über die darin liegende Anspielung auf die gleichzeitige politische
Geschichte vgl. W. Nestle aaO. 530, Anm. 101; Radermacher Rh. M. L11I
508; Oeri aaO. 11. — Dieselbe Unterscheidung der Orakel von den Seher-
sprüchen findet sich in den Hiketiden, aber in gerade umgekehrter Wertung
wie hier. Schon aus diesem Wechsel geht hervor, daß es sich offenbar um
einen Umschlag in der politischen Stellung des-Dichters handelt. Ein
Schwanken in religiösen Ansichten liegt nicht darin; ein solches dürften
wir m. E. nur dann erkennen, wenn Euripides das eine Mal die Mantik
schlechthin, nicht bloß eine einzelne Unterart von ihr, verdammte, das
andere Mal die Mantik generell acceptieren würde.

2 Hartung aaO. II 311 sagt: Somnio quodam territus Aegisthus sacri-
ficare nymphis instituit. Im Text sucht man vergeblich nach einer An-
deutung des Traums: der Greis weiß auf die Frage des Orestes, was Ai-
gisthos mit dem Opfer beabsichtige, nichts zu berichten als (627): Ov%
olda n^v &v° ^ova^ayeiv conL^ero. Der Tragiker hat also eine Motivierung
des Opfers weder nach Ursache noch nach Zweck für erforderlich gehalten,
und die Worte Hartungs sind leere Vermutung.
 
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