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Rudolf Staehlin
Dem Orakel kommt freilich auch hier die viel stärkere Be-
deutung zu wie meistens.
Orestes wiederholt seine Anklagen gegen den delphischen
Gott (711 ff.): Pylades aber hält die Autorität Delphis auf-
recht und stellt dem Todgeweihten vor, es sei auch jetzt noch
ein Umschlag zum Guten möglich (719 ff.), deutlich wieder
eine Reminiszenz an die Pyladesszene der „Choephoren".
Nach der Anagnorisis gilt es den Befehl Apollons, den
Raub des Kultbildes, zur Ausführung zu bringen. Iphigeneia
trägt nur wegen des Zorns der Göttin Bedenken, die aber
von Orestes eben mit dem Hinweis auf den Spruch ihres
Bruders Apollon beseitigt werden (1012)1. An diesem Punkt
bringt das Orakel ein sich der Handlung entgegenstemmendes
Moment zu Fall und erweist von neuem seine wirkende Kraft.
Iphigeneia weiß so, daß Artemis nicht grollt, wenn ihr Bild
aus dem Taurierland nach Athen gebracht wird; sie darf es
daher wagen, an ihre Göttin das Gebet zu richten (1082 ff),
sie möge Loxias nicht zum Lügner machen.
Zur Ausführung der List redet Iphigeneia dem König
ein, das Xoanon bedürfe der Reinigung, es sei offenbar von
den Griechenjünglingen berührt worden. Zum Beweis dafür
fingiert sie ein Prodigium: das Idol drehte sich um und schloß
die Augen (1165 ff.).
Aus dem Mund Athenes erfährt auch Thoas den Spruch
des Apollon (1438 ff.) und der Autorität von Athene und Apollon
fügt sich der König willig und ohne Groll. So zeigt das
Orakel noch bis zum Ende der Tragödie seine Macht2: es
1 Für Euripides charakteristisch: der Befehl des Gottes ist nicht des-
wegen gut, weil die Handlung des Gottes über die Kritik der menschlichen
Moral erhaben ist (das ist sophokleische Theologie), sondern weil der Gott
die Gesinnung der Artemis kennen muß und nichts ihr direkt Wider-
strebendes befehlen wird.
2 Mit Recht preist daher der Chor in seinem letzten Liede (1234 ff.)
den delphischen Apollon; mit Recht zeigen daher auch die Vasenbilder
neben der taurischen Artemis den Apollon sitzend, z. B. eine Amphora aus
Ruvo (jetzt in Neapel), abgebildet Monumenti dell' Instituto II Tafel 43
und Huddilston-Hense, Die griechische Tragödie im Lichte der Vasenmalerei,
Freiburg 1900, 18.
Rudolf Staehlin
Dem Orakel kommt freilich auch hier die viel stärkere Be-
deutung zu wie meistens.
Orestes wiederholt seine Anklagen gegen den delphischen
Gott (711 ff.): Pylades aber hält die Autorität Delphis auf-
recht und stellt dem Todgeweihten vor, es sei auch jetzt noch
ein Umschlag zum Guten möglich (719 ff.), deutlich wieder
eine Reminiszenz an die Pyladesszene der „Choephoren".
Nach der Anagnorisis gilt es den Befehl Apollons, den
Raub des Kultbildes, zur Ausführung zu bringen. Iphigeneia
trägt nur wegen des Zorns der Göttin Bedenken, die aber
von Orestes eben mit dem Hinweis auf den Spruch ihres
Bruders Apollon beseitigt werden (1012)1. An diesem Punkt
bringt das Orakel ein sich der Handlung entgegenstemmendes
Moment zu Fall und erweist von neuem seine wirkende Kraft.
Iphigeneia weiß so, daß Artemis nicht grollt, wenn ihr Bild
aus dem Taurierland nach Athen gebracht wird; sie darf es
daher wagen, an ihre Göttin das Gebet zu richten (1082 ff),
sie möge Loxias nicht zum Lügner machen.
Zur Ausführung der List redet Iphigeneia dem König
ein, das Xoanon bedürfe der Reinigung, es sei offenbar von
den Griechenjünglingen berührt worden. Zum Beweis dafür
fingiert sie ein Prodigium: das Idol drehte sich um und schloß
die Augen (1165 ff.).
Aus dem Mund Athenes erfährt auch Thoas den Spruch
des Apollon (1438 ff.) und der Autorität von Athene und Apollon
fügt sich der König willig und ohne Groll. So zeigt das
Orakel noch bis zum Ende der Tragödie seine Macht2: es
1 Für Euripides charakteristisch: der Befehl des Gottes ist nicht des-
wegen gut, weil die Handlung des Gottes über die Kritik der menschlichen
Moral erhaben ist (das ist sophokleische Theologie), sondern weil der Gott
die Gesinnung der Artemis kennen muß und nichts ihr direkt Wider-
strebendes befehlen wird.
2 Mit Recht preist daher der Chor in seinem letzten Liede (1234 ff.)
den delphischen Apollon; mit Recht zeigen daher auch die Vasenbilder
neben der taurischen Artemis den Apollon sitzend, z. B. eine Amphora aus
Ruvo (jetzt in Neapel), abgebildet Monumenti dell' Instituto II Tafel 43
und Huddilston-Hense, Die griechische Tragödie im Lichte der Vasenmalerei,
Freiburg 1900, 18.