Das Motiv der Mantik im antiken Drama
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verkündet, was ihr geistiges Auge gesehen. Ihre Worte
werden um so eher geglaubt werden, als ihre erste Weis-
sagung schon in Erfüllung gegangen ist. Wir haben hier
wieder das uns wohl bekannte Motiv, das erhöhte Glaub-
würdigkeit schafft, hier ist es insofern variiert, als die Ver-
kündigung sich sonst auf tatsächlich Geschehenes, hier auf
erst Zukünftiges, aber vom zweiten Spruch aus betrachtet
allerdings auch schon Eingetroffenes bezieht. An dem heutigen
Tage wird bei Zeus in der Götterversammlung um das
Schicksal des Menelaos gestritten werden (877 ff.); Here will
für Menelaos Rückkehr nach Hellas erwirken, Kypris sträubt
sich dagegen. Da die Göttinnen sich so die Wage halten,
steht es der Seherin frei, wie sie sich entscheiden will, ob
sie die Anwesenheit des Schiffbrüchigen ihrem grausamen
Bruder verraten und so die Heimfahrt unmöglich machen
oder ob sie ihn durch Schweigen retten will.
Dieses retardierende Moment, das die Zuschauer eine
Spanne Zeit bange macht, gibt dem Tragiker Gelegenheit,
das Ethos der Helene und des Menelaos zu entwickeln und
in ihrer Antithese darzutun, vor allem aber — echt euri-
pideisch — einen richtigen Redeagon sich entspinnen zu
lassen, an dem die Zuschauer ihre helle Freude haben mußten \
Bei der Ausführung der von Helene ersonnenen List er-
weist wieder das Divinationsmotiv seine Brauchbarkeit: von
ihrem Bruder befragt, wo Menelaos weile, äußert Theonoe
ihre Sympathie für Helene und Menelaos nicht durch bloßes
Schweigen, sondern sie antwortet, er sei tot (1372 f.).
Diese Lüge 2, aus dem Mund der Seherin kommend, muß
von Theoklymenos als untrügliche Wahrheit betrachtet werden
und die falschen Worte Helenes bestätigen 3. Demnach ist
den „Eumeniden" erinnert; hier wie dort die Klimax: zuerst Bericht über
eine Weissagung, dann Auftreten der prophezeienden Person selbst.
+ 1 Hartung aaO. 333 ff.
2 Es wird hier also nicht die Existenz eines Seherspruches an sich
erdichtet (das wäre das genaue Analogon zu dem fingierten Vorzeichen in
der taurischen Iphigeneia), sondern der Spruch an sich existiert wirklich,
ist aber falsch; aber hier wie dort ist es im Grunde dasselbe Motiv: Ver-
wendung der Mantik mit Hilfe einer Lüge zur Intrigue.
3 Klotz äaO.
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verkündet, was ihr geistiges Auge gesehen. Ihre Worte
werden um so eher geglaubt werden, als ihre erste Weis-
sagung schon in Erfüllung gegangen ist. Wir haben hier
wieder das uns wohl bekannte Motiv, das erhöhte Glaub-
würdigkeit schafft, hier ist es insofern variiert, als die Ver-
kündigung sich sonst auf tatsächlich Geschehenes, hier auf
erst Zukünftiges, aber vom zweiten Spruch aus betrachtet
allerdings auch schon Eingetroffenes bezieht. An dem heutigen
Tage wird bei Zeus in der Götterversammlung um das
Schicksal des Menelaos gestritten werden (877 ff.); Here will
für Menelaos Rückkehr nach Hellas erwirken, Kypris sträubt
sich dagegen. Da die Göttinnen sich so die Wage halten,
steht es der Seherin frei, wie sie sich entscheiden will, ob
sie die Anwesenheit des Schiffbrüchigen ihrem grausamen
Bruder verraten und so die Heimfahrt unmöglich machen
oder ob sie ihn durch Schweigen retten will.
Dieses retardierende Moment, das die Zuschauer eine
Spanne Zeit bange macht, gibt dem Tragiker Gelegenheit,
das Ethos der Helene und des Menelaos zu entwickeln und
in ihrer Antithese darzutun, vor allem aber — echt euri-
pideisch — einen richtigen Redeagon sich entspinnen zu
lassen, an dem die Zuschauer ihre helle Freude haben mußten \
Bei der Ausführung der von Helene ersonnenen List er-
weist wieder das Divinationsmotiv seine Brauchbarkeit: von
ihrem Bruder befragt, wo Menelaos weile, äußert Theonoe
ihre Sympathie für Helene und Menelaos nicht durch bloßes
Schweigen, sondern sie antwortet, er sei tot (1372 f.).
Diese Lüge 2, aus dem Mund der Seherin kommend, muß
von Theoklymenos als untrügliche Wahrheit betrachtet werden
und die falschen Worte Helenes bestätigen 3. Demnach ist
den „Eumeniden" erinnert; hier wie dort die Klimax: zuerst Bericht über
eine Weissagung, dann Auftreten der prophezeienden Person selbst.
+ 1 Hartung aaO. 333 ff.
2 Es wird hier also nicht die Existenz eines Seherspruches an sich
erdichtet (das wäre das genaue Analogon zu dem fingierten Vorzeichen in
der taurischen Iphigeneia), sondern der Spruch an sich existiert wirklich,
ist aber falsch; aber hier wie dort ist es im Grunde dasselbe Motiv: Ver-
wendung der Mantik mit Hilfe einer Lüge zur Intrigue.
3 Klotz äaO.