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Staehlin, Rudolf
Das Motiv der Mantik im antiken Drama — Giessen: Toepelmann, 1912

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https://doi.org/10.11588/diglit.74897#0153
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Das Motiv der Mantik im antiken Drama

143

ihren letzten Gang im vollen Bewußtsein des bevorstehenden
Geschickes \
Der Seherspruch dient hier nicht als erregendes, sondern
nur als steigerndes Moment; er setzt erst in der schon im
Fluß befindlichen Handlung ein. Von dem Kalchasspruch
geht dann der zweigespaltene weitere Verlauf des Dramas
aus, der in beiden Ästen je eine Intrigue veranlaßt: im einen
Ast bewirkt er den — wohl fingierten — von Odysseus zitierten
weiteren Spruch des Kalchas, der einen ergreifenden Seelen-
kampf Andromaches hervorruft, im anderen die belanglose,
wohl aus bloßem Nachahmungstrieb geschaffene Intrigue der
Helena. Dazwischen herein spielt das Traummotiv, das auch
in mehr als einer Hinsicht Beachtung verdient: einmal die
Gestaltung des Traumes selbst (siehe u. S. 145), sodann die
Eigentümlichkeit, daß er erst in der Mitte des Dramas, nicht
am Anfang erscheint, in diesem Punkt vergleichbar mit dem
Traum des „Rhesos"; vor allem aber ist es auffallend, daß
er für Chor und Zuschauer 2 erst nach seiner Erfüllung 3 er-
zählt wird. Unter den erhaltenen antiken Dramen ist er
damit eine Singularität; selbst Euripides, der auf Erregung
von Spannung beim Publikum oft nicht allzuviel Gewicht legt —
man denke an die euripideischen 3eol ^oloyl^ovra —, hat

1 Wir sehen auch hier die echt griechische Auffassung, auch bei einem
Opfertod wie diesem, dem sich das Mädchen nicht in dem Bewußtsein
unterziehen kann, eine verdienstvolle Tat für seine Angehörigen zu voll-
bringen, wie etwa Makaria oder Iphigeneia.

2 Andromache freilich weiß von dem Auftreten des Agamemnon,
Pyrrhus und Kalchas nichts und folglich auch nichts von dem Seherspruch.
Seneca schiebt mit der Kalchasszene sozusagen noch einmal ein Stück
Prolog ein, das nur deshalb nicht als prologhaft empfunden wird, weil der
Chor, der auf der Bühne ist, in lebendiger Verbindung mit der Handlung
steht und die Reden der drei Schauspieler sieh so nicht ausschließlich an
die Zuschauer richten.

3 Ich sage „Erfüllung", obgleich dieser Ausdruck nicht genau paßt;
denn der Traum der Andromache besteht lediglich aus einer Aufforderung,
und diese wird streng genommen erst von Andromache selbst befolgt, nicht
aber von Agamemnon, Pyrrhus und Kalchas. Aber dem Befehl Hektors
liegt eine Gefahr für Astyanax zugrunde; die aber tritt mit dem Spruch
des Kalchas in drohende, ja sichere Nähe. In diesem Sinn kann man von
„Erfüllung" reden.
 
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