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Rudolf Staehlin
Das ist das Positive an der Vision. Nun einige Worte
über das ebenso lehrreiche Negative. Gegenüber der Vision
der aischyleischen Kassandra stellt die Vision bei Seneca eine
ganz erhebliche Verkürzung dar und zwar gerade in sehr
wirkungsvollen Punkten. Die Rückwärtsprophezeiung der
Greuel des Atreidenhauses, vor allem des Thyestesmahles, hat
Seneca nicht aufgenommen; allerdings wäre das, nachdem er
den Schatten des Thyestes im Prolog hat erscheinen lassen,
eine Wiederholung. Ganz besonders fällt die Auslassung der-
jenigen Partien des hellenischen Dramas auf, in denen Bezug
genommen wird auf Apollon, und ebenso fehlt jede Prophe-
zeiung Kassandras über ihr eigenes Los. Damit hat sich
Seneca zwei der wirksamsten Momente entgehen lassen, und
darin liegt eine gewisse Ironie: der Dichter, der mit allen
möglichen Mitteln Effekt zu erzielen sucht, hat gerade die
wahrhaft ergreifenden Motive nicht verwendet 2.
Die Kassandraszene des römischen Tragikers 2 lehrt uns
von neuem die geniale Kunst des Aischylos schätzen, die auch
der große Euripides in seiner Kassandraszene nicht erreicht
hat. Doch müssen wir der Szene bei Seneca das Lob zu-
gestehen, daß sie frei ist von schwülstiger Rhetorik, wenn
auch nicht von Rhetorik schlechthin, und daß sie, wenn nicht
an originaler griechischer Schöpfung gemessen, immerhin eine
beachtenswerte Höhe einnimmt.
§ 36. Thyestes
In Betracht kommen hier zunächst Vorzeichen, die vom
Boten berichtet werden: vor der greuelvollen Ermordung der
Söhne des Thyestes erbebt der Palast (697) und wandelt sich
1 Das geht wohl auf das von Seneca neben dem aischyleischen „Aga-
memnon" benützte griechische Vorbild zurück; die Vorlage ist nicht sicher
festgestellt, ist aber vielleicht dieselbe, die auch für den „Aegisthus" des
Livius Andronicus in Betracht kommt. Vgl. darüber Strauß aaO. 44 ff. und
Zeitschrift für österreichische Gymnasien XLIII 735.
2 Eine Kassandraszene hat in Anlehnung an Seneca auch Loschi
seiner Tragödie „Achilleis" eingefügt: Kassandra prophezeit den Untergang
ihrer Vaterstadt inmitten der jubelnden Freude Hekabes darüber, daß an
Achilleus heimtückisch Rache genommen wird (Creizenach aaO. I 520).
Rudolf Staehlin
Das ist das Positive an der Vision. Nun einige Worte
über das ebenso lehrreiche Negative. Gegenüber der Vision
der aischyleischen Kassandra stellt die Vision bei Seneca eine
ganz erhebliche Verkürzung dar und zwar gerade in sehr
wirkungsvollen Punkten. Die Rückwärtsprophezeiung der
Greuel des Atreidenhauses, vor allem des Thyestesmahles, hat
Seneca nicht aufgenommen; allerdings wäre das, nachdem er
den Schatten des Thyestes im Prolog hat erscheinen lassen,
eine Wiederholung. Ganz besonders fällt die Auslassung der-
jenigen Partien des hellenischen Dramas auf, in denen Bezug
genommen wird auf Apollon, und ebenso fehlt jede Prophe-
zeiung Kassandras über ihr eigenes Los. Damit hat sich
Seneca zwei der wirksamsten Momente entgehen lassen, und
darin liegt eine gewisse Ironie: der Dichter, der mit allen
möglichen Mitteln Effekt zu erzielen sucht, hat gerade die
wahrhaft ergreifenden Motive nicht verwendet 2.
Die Kassandraszene des römischen Tragikers 2 lehrt uns
von neuem die geniale Kunst des Aischylos schätzen, die auch
der große Euripides in seiner Kassandraszene nicht erreicht
hat. Doch müssen wir der Szene bei Seneca das Lob zu-
gestehen, daß sie frei ist von schwülstiger Rhetorik, wenn
auch nicht von Rhetorik schlechthin, und daß sie, wenn nicht
an originaler griechischer Schöpfung gemessen, immerhin eine
beachtenswerte Höhe einnimmt.
§ 36. Thyestes
In Betracht kommen hier zunächst Vorzeichen, die vom
Boten berichtet werden: vor der greuelvollen Ermordung der
Söhne des Thyestes erbebt der Palast (697) und wandelt sich
1 Das geht wohl auf das von Seneca neben dem aischyleischen „Aga-
memnon" benützte griechische Vorbild zurück; die Vorlage ist nicht sicher
festgestellt, ist aber vielleicht dieselbe, die auch für den „Aegisthus" des
Livius Andronicus in Betracht kommt. Vgl. darüber Strauß aaO. 44 ff. und
Zeitschrift für österreichische Gymnasien XLIII 735.
2 Eine Kassandraszene hat in Anlehnung an Seneca auch Loschi
seiner Tragödie „Achilleis" eingefügt: Kassandra prophezeit den Untergang
ihrer Vaterstadt inmitten der jubelnden Freude Hekabes darüber, daß an
Achilleus heimtückisch Rache genommen wird (Creizenach aaO. I 520).