Das Motiv der Mantik im antiken Drama
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dodonäischen Spruches verzichtet1; aber die beiden anderen
aus der Mantik genommenen Motive, das Zeichen der Woll-
flocke — wenn dies als mantisch bezeichnet werden darf —
und der zweite Orakelspruch ist beibelialten und als Neues
eine Vision eingefügt.
In heftigster Angst und Verwirrung eilt Deianeira aus
dem Palast, noch ganz betäubt von dem Zeichen, das sie so-
eben geschaut: eine Wollflocke, mit dem Blut des Nessos ge-
tränkt, ist unter den Strahlen der Sonne auseinandergestoben
und ganz zergangen; die Stelle am Boden, auf der die Flocke
lag, zeigt Schaum; alles, was von der Flüssigkeit getroffen ist,
schwindet hin. Seneca hält sich bei der Beschreibung des
Zeichens durchaus an seine Vorlage, faßt sich aber bedeutend
kürzer als Sophokles; bemerkenswert ist bei Seneca die Va-
riante, daß er die Wollflocke von Deianeira absichtlich zu
Boden werfen läßt, damit sie in einer dunklen Ahnung
kommenden Unheils prüfe, ob in dem Rat des Kentauren nicht
eine arge List verborgen sei (718); bei Sophokles fällt die
Flocke ganz zufällig auf den Boden. Seiner Gewohnheit
gemäß arbeitet der Nachahmer mit stärkeren Mitteln, indem
er den Angstzustand des Weibes steigert und durch erectus
crinis, cor saliens, iecur venis trepidis palpitans zum Ausdruck
kommen läßt; die sophokleische Deianeira ist trotz aller Be-
stürzung doch mehr Herrin ihrer Sinne.
Bei beiden Dichtern folgt unmittelbar auf die Erregung
der Angst die Bestätigung des Unheils durch Hyllos.
Von den gräßlichsten Schmerzen gepeinigt, sieht Herakles
den Himmel offen (1434 ff.), in ihm seinen göttlichen Vater
und die nun endlich versöhnte Juno, die den Helden zur Ver-
mählung mit ihrer Tochter ruft. Herakles erblickt die
strahlende Wohnung der Götter, den leuchtenden Himmel und
die Stätte der Nacht, tief unter sich den Oeta und Trachis.
Da mit einem Mal schließt sich die Himmelsburg vor ihm,
er ist der Sonne wieder entrückt.
Diese Vision wird uns wie die Kassandras direkt vor-
1 Das hängt offenbar mit der Komposition der Tragödie zusammen.
Nach den neuesten Untersuchungen darf das Stück, so, wie es uns vor-
liegt, als echt gelten, in allen seinen Teilen.
Religionsgeschichtliche Versuche u. Vorarbeiten XII, 1. 11
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dodonäischen Spruches verzichtet1; aber die beiden anderen
aus der Mantik genommenen Motive, das Zeichen der Woll-
flocke — wenn dies als mantisch bezeichnet werden darf —
und der zweite Orakelspruch ist beibelialten und als Neues
eine Vision eingefügt.
In heftigster Angst und Verwirrung eilt Deianeira aus
dem Palast, noch ganz betäubt von dem Zeichen, das sie so-
eben geschaut: eine Wollflocke, mit dem Blut des Nessos ge-
tränkt, ist unter den Strahlen der Sonne auseinandergestoben
und ganz zergangen; die Stelle am Boden, auf der die Flocke
lag, zeigt Schaum; alles, was von der Flüssigkeit getroffen ist,
schwindet hin. Seneca hält sich bei der Beschreibung des
Zeichens durchaus an seine Vorlage, faßt sich aber bedeutend
kürzer als Sophokles; bemerkenswert ist bei Seneca die Va-
riante, daß er die Wollflocke von Deianeira absichtlich zu
Boden werfen läßt, damit sie in einer dunklen Ahnung
kommenden Unheils prüfe, ob in dem Rat des Kentauren nicht
eine arge List verborgen sei (718); bei Sophokles fällt die
Flocke ganz zufällig auf den Boden. Seiner Gewohnheit
gemäß arbeitet der Nachahmer mit stärkeren Mitteln, indem
er den Angstzustand des Weibes steigert und durch erectus
crinis, cor saliens, iecur venis trepidis palpitans zum Ausdruck
kommen läßt; die sophokleische Deianeira ist trotz aller Be-
stürzung doch mehr Herrin ihrer Sinne.
Bei beiden Dichtern folgt unmittelbar auf die Erregung
der Angst die Bestätigung des Unheils durch Hyllos.
Von den gräßlichsten Schmerzen gepeinigt, sieht Herakles
den Himmel offen (1434 ff.), in ihm seinen göttlichen Vater
und die nun endlich versöhnte Juno, die den Helden zur Ver-
mählung mit ihrer Tochter ruft. Herakles erblickt die
strahlende Wohnung der Götter, den leuchtenden Himmel und
die Stätte der Nacht, tief unter sich den Oeta und Trachis.
Da mit einem Mal schließt sich die Himmelsburg vor ihm,
er ist der Sonne wieder entrückt.
Diese Vision wird uns wie die Kassandras direkt vor-
1 Das hängt offenbar mit der Komposition der Tragödie zusammen.
Nach den neuesten Untersuchungen darf das Stück, so, wie es uns vor-
liegt, als echt gelten, in allen seinen Teilen.
Religionsgeschichtliche Versuche u. Vorarbeiten XII, 1. 11