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Staehlin, Rudolf
Das Motiv der Mantik im antiken Drama — Giessen: Toepelmann, 1912

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https://doi.org/10.11588/diglit.74897#0046
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Rudolf Staehlin

Form aber ist nicht stesichoreisch, vermutlich ein Werk des
Tragikers selbst. Bei Stesichoros bezieht sich die Schlange
auf Agamemnon 1, bei Aischylos auf Orestes 2. Die stesi-
choreische Fassung ist sicher die ältere, denn in ihr kommt
die uralte Anschauung zum Ausdruck, daß die Schlange die
Seele des Toten ist. Der Traum ist uns bei Stesichoros gewiß
vollständig erzählt, und es geht nicht an, ihn mit Robert
aaO. durch den aischyleischen und sophokleischen zu vervoll-
ständigen3. Wenn Aischylos dem Traum die Wendung gibt,
daß die Schlange an der Brust Klytaimestras liegt4 und mit
der Milch zugleich Blut aus ihr saugt, so hat er das sicherlich
aus uraltem Volksglauben genommen, offenbar aus einer Kon-
tamination zweier Vorstellungskreise. Nach weitverbreiteter
Volksanschauung trinken die Schlangen gerne Milch, auch
Frauenmilch5. Das ist ohne Zweifel die ältere Vorstellung.

1 Die Interpretation des zweiten Verses des stesichoreischen Fragments
ist strittig; man möchte am ehesten mit Robert, Bild und Lied 170 f. an-
nehmen, der ßaail&vs nhio^evidas sei niemand anderes als Agamemnon
selbst. Der Traum würde dann also nur von einem, nicht von zwei
Drachen reden.

2 Das ist trefflich von Radermacher, Das Jenseits im Mythos der
Hellenen, Untersuchungen über antiken Jenseitsglauben, Bonn 1903, 125 ff.
ausgeführt.

3 Radermacher aaO. Schon Seeliger aaO. 19 hatte gegen diese An-
nahme Roberts polemisiert.

4 Otfried Müller, Eumeniden 111 Anm. 5 hat eine Darstellung auf
einem Sarkophagfragment (früher in der Villa Borghese zu Rom, jetzt im
Louvre), abgebildet bei Robert, Sarkophagreliefs II Tafel 56 Nr. 161, als
die am Boden liegende Klytaimestra, nach der eine Schlange züngelt, ver-
stehen und mit dem Traum der Klytaimestra in den „Choephoren" in Zu-
sammenhang bringen wollen; nach Robert stellt die Szene eine schlafende
Erinys dar, wie die Fackel in ihrer rechten Hand beweist. Die Schlange
ist also lediglich das typische Attribut der Erinys, und damit die Ver-
mutung Müllers unhaltbar geworden.

5 Beispiele dafür sind gesammelt von Olbrich, Mitteilungen der schle-
sischen Gesellschaft für Volkskunde III 41 ff. und IV 67 ff. Die tiefere
religiöse Grundlage für diesen Volksglauben hat Olbrich wohl richtig darin
gesucht, daß die Schlange als Seelentier der lebenerhaltenden Kraft der
Milch bedarf: es ist schwerlich Zufall, daß die Totenspenden in Hellas ge-
rade auch aus Milch bestehen. Vgl. Usener, Milch und Honig, Rhein. Mus.
LVII 177 ff.
 
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