74
Rudolf Staehlin
bestehen, daß Sophokles sich bei der Anwendung dieses Kunst-
mittels unmittelbar an Aischylos angeschlossen hat.
§ 13. Philoktet
Helenos hat, von Odysseus gefangen genommen, den
Griechen unter anderem verkündet, sie würden niemals die
Burg von Troia zerstören, wenn sie nicht Philoktetes bewegen
könnten, ins Griechenlager zu kommen (610ff.). Diese Auf-
gabe haben Odysseus und Neoptolemos übernommen. Den
von Odysseus ersonnenen Plan verrät Neoptolemos; alle Bitten
fruchten nichts bei dem starren Eigensinn und Groll des
Helden: endlich sucht Neoptolemos auf Grund des Spruches
des Helenos Philoktet zur Reise zu dem Heere zu bewegen.
Helenos hat auch geweissagt, Philoktets furchtbare Wunde
werde von den Asklepiaden, die im Hellenenlager vor Ilion
sind, geheilt werden (1329 ff.). Umsonst. Ja Neoptolemos selbst
läßt sich dazu bewegen, Philoktetes auf seinem Schiff in seine
Heimat zu geleiten, die ganze Handlung des Dramas scheint
fehlzuschlagen — da erscheint Herakles und wiederholt das,
was Helenos aus Divination erkannt, in seiner ihm als Gott
verliehenen unmittelbaren Kenntnis der Schicksalssprüche des
Zeus. Vor Herakles bricht der starre Sinn des Philoktet zu-
sammen, er erklärt sich zur Fahrt nach Ilion bereit, das
Drama ist auf den Punkt gelangt, auf den es der Dichter
bringen wollte und nach dem Mythos bringen mußte.
Das mantische Motiv ist sonach in dieser Tragödie von
Sophokles in ganz eigenartiger Weise verwendet worden: ein
Seherspruch besitzt die Triebkraft für die ganze Handlung,
erweist sich aber gegenüber dem — von Sophokles psychologisch
fein gezeichneten — Antagonisten zu schwach, um das Spiel zum
Sieg gelangen zu lassen; da greift der deus ex machina ein 1
1 Wir fühlen uns hier erinnert an die Choephoren, wo ja gleichfalls
das Motiv der Mantik — Orakelspruch des Loxias — zu schwach ist, um
die Handlung zum Ziel zu führen, und wo daher der Gott selbst — re-
präsentiert durch Pylades — eintreten muß. Halten wir diese beiden Dramen
zusammen, so wird uns das Unkünstlerische des euripideischen 3eös dnö
,%/.arfc erschreckend klar; in welch wundervolle Szene hat doch Aischylos
das Erlahmen des Orakelmotivs und die Ablösung seiner Rolle durch den
Gott selbst gekleidet!
Rudolf Staehlin
bestehen, daß Sophokles sich bei der Anwendung dieses Kunst-
mittels unmittelbar an Aischylos angeschlossen hat.
§ 13. Philoktet
Helenos hat, von Odysseus gefangen genommen, den
Griechen unter anderem verkündet, sie würden niemals die
Burg von Troia zerstören, wenn sie nicht Philoktetes bewegen
könnten, ins Griechenlager zu kommen (610ff.). Diese Auf-
gabe haben Odysseus und Neoptolemos übernommen. Den
von Odysseus ersonnenen Plan verrät Neoptolemos; alle Bitten
fruchten nichts bei dem starren Eigensinn und Groll des
Helden: endlich sucht Neoptolemos auf Grund des Spruches
des Helenos Philoktet zur Reise zu dem Heere zu bewegen.
Helenos hat auch geweissagt, Philoktets furchtbare Wunde
werde von den Asklepiaden, die im Hellenenlager vor Ilion
sind, geheilt werden (1329 ff.). Umsonst. Ja Neoptolemos selbst
läßt sich dazu bewegen, Philoktetes auf seinem Schiff in seine
Heimat zu geleiten, die ganze Handlung des Dramas scheint
fehlzuschlagen — da erscheint Herakles und wiederholt das,
was Helenos aus Divination erkannt, in seiner ihm als Gott
verliehenen unmittelbaren Kenntnis der Schicksalssprüche des
Zeus. Vor Herakles bricht der starre Sinn des Philoktet zu-
sammen, er erklärt sich zur Fahrt nach Ilion bereit, das
Drama ist auf den Punkt gelangt, auf den es der Dichter
bringen wollte und nach dem Mythos bringen mußte.
Das mantische Motiv ist sonach in dieser Tragödie von
Sophokles in ganz eigenartiger Weise verwendet worden: ein
Seherspruch besitzt die Triebkraft für die ganze Handlung,
erweist sich aber gegenüber dem — von Sophokles psychologisch
fein gezeichneten — Antagonisten zu schwach, um das Spiel zum
Sieg gelangen zu lassen; da greift der deus ex machina ein 1
1 Wir fühlen uns hier erinnert an die Choephoren, wo ja gleichfalls
das Motiv der Mantik — Orakelspruch des Loxias — zu schwach ist, um
die Handlung zum Ziel zu führen, und wo daher der Gott selbst — re-
präsentiert durch Pylades — eintreten muß. Halten wir diese beiden Dramen
zusammen, so wird uns das Unkünstlerische des euripideischen 3eös dnö
,%/.arfc erschreckend klar; in welch wundervolle Szene hat doch Aischylos
das Erlahmen des Orakelmotivs und die Ablösung seiner Rolle durch den
Gott selbst gekleidet!