Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Straßburger Münsterblatt: Organ des Straßburger Münster-Vereins — 6.1912

DOI Artikel:
Knauth, Johannes: Erwin von Steinbach
DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.20536#0020
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
8

ich wohl schmecken und gemessen, keineswegs aber
erkennen und erklären konnte. Sie sagen, dass es
also mit den Freuden des Himmels sei. Wie oft bin
ich zurückgekehrt, diese himmlich irdische Freude
zu geniessen ! Wie oft bin ich zurückgekehrt, von
allen Seiten, aus allen Ent-
fernungen, in jedem Licht
des Tages zu schauen
seine Würde und Herrlich-
keit. Schwer ist’s dem Menschengeist,
wenn seines Bruders Werk so hoch
erhaben ist, dass er nur sich beugen
und anbeten muss. Wie oft hat die
Abendsonne mein durch forschendes
Schauen ermattetes Auge mit freundlicher Ruhe
geletzt, wenn durch sie die unzähligen Teile zu
ganzen Massen schmolzen, und
nun diese, einfach und gross,
vor meiner Seele standen, und
meine Kraft sich wonnevoll ent-
faltete, zu geniessen und zu er-
kennen. Da offenbarte sich mir
in leisen Ahnungen der Geist
des grossen Werkmeisters. —

Von der Stufe, auf welche Erwin
gestiegen ist, wird ihn keiner
herabstossen; hier steht sein
Werk, tretet hin und erkennt
das tiefste Gefühl von Wahrheit
und Schönheit der Verhältnisse,
wirkend aus starker, rauher
deutscher Seele“.

Und als er später wieder
zum Grabe Erwins wallfahrtete:

„Wunderlich war’s, von einem
Gebäude geheimnisvoll reden,

Tatsachen in Rätsel hüllen und
von den Massverhältnissen poe-
tisch lallen! Und doch geht’s
mir jetzt nicht besser“.

So redete und dachte der
jugendliche Goethe von Erwin
und seiner Kunst, er, den man
auch gelehrt hatte, alles Men-
schenwerk mit dem Massstabe
antikischen Geistes zu messen;
hier zu Füssen von Erwins Dom
sprosste auch ihm die Blume
schönster Romantik. Und wie
er dachte und fühlte der Dichter-
kreis der deutschen Romantiker, Abb- 2
dessen Lebenskraft in der vater-
ländischen Vergangenheit, in der bis dahin so ängstlich
gemiedenen Welt des deutschen Mittelalters wurzelte.
Wackenroder und Tieck und Brentano, Friedrich
Schlegel und Arnim, sie alle preisen begeistert den

Strassburger Wunderbau und Erwin, seinen Werk-
meister ‘2.

Und auch heute noch in unserer so nüchtern
urteilenden Zeit der Technik und der sozialen Frage,
das Werk Erwins, die Fassade unseres Münsters, ist

auch jetzt noch des tiefsten
Eindrucks auf jedes em-
pfängliche Gemüt sicher.
Hier empfinden wir einen
Hauch mittelalterlichen Geistes, einen
Begriff von dem erhabenen Kräfterhyth-
mus gotischer Baukunst, die die Materie
zum Leben, zum Kunstwerk gebildet
hat. Für uns ist heute noch Erwin der
Vertreter alter deutscher Kunst, eine Persönlichkeit
und zugleich ein Symbol.

Zwar ist unsere moderne
Zeit kritischer geworden. Man
sieht in Erwin nicht mehr den
gotischen Meister schlechthin.
Man forscht nach, man sucht
festzustellen, was denn nun sein
ureigenstes Werk ist. Merk-
würdig weit gehen die Mein-
ungen auseinander. Während
die Einen ihm den Bau fast des
ganzen Münsters, sowie der
Dome von Freiburg, Regensburg
und weitere mehr zuschreiben
wollen, suchen Andere ihm
einen Ruhmestitel nach dem
anderen wegzustreiten. Nach
ihnen ist er schliesslich nicht
viel mehr als ein sehr mittel-
mässiger Architekt und vielleicht
etwas geschickter Organisator
gewesen,dem aber zuUnrecht die
Ehren gebühren, die ihm von Jahr-
hunderten bezeugt worden sind.

Am weitesten nach der einen
Richtung geht wohl Adler3. Er
sieht in Erwin nicht nur den
künstlerischen nud technischen
Leiter desFassadenbaues, er lässt
denselben vielmehr nach einem
zerstörenden Brande im Jahre
1298, von welchem weiter unten
noch des öfteren die Rede sein
wird, fast das ganze Münster,
Langhaus und Querschiffe voll-
ständig erneuern. Eine wesent-
liche Erhöhung des Langschiffes,
dieUmgestaltung der Fenstermasswerke, die Einfügung
des durchbrochenen und verglasten Triforiums, der
Lettner vor dem Choraufgang und anderes sollen nach
Adler das Werk Erwins sein. Und über seine Tätig-

Abb 1.. Inschriftreste von der
St. Marienkapelle (nach den
Originalen im Frauenhaus).

Grabscbrift der Husa, des Erwin und
des Johannes.
 
Annotationen