I. Raphael und Leonardo.
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Grundrissdreieckes aufragen, die öde, historische Gestaltenmasse
gliedern und idealisiren, endlich als Grundpfeiler der Composition
dadurch, dass sie alle drei nach oben blicken, zur oberen Gruppe
überleiten, das ist mit so sicherem und einfachem Tact, aus
einem vorwiegend architektonischen Stilgefühle geschaffen, dass
wir darin schon klar die Neigung erkennen, welcher Raphael zu-
nächst folgen sollte. Was da, noch im Rahmen der alten Com-
positionsart, durchbricht, ist in der Disputa zur Blüte entwickelt
und in der hl. Cäcilie einer, eine neue Stilwandlung bezeichnenden
Verflachung anheimgefallen.
In Florenz erhält Raphaels Streben nach einem statischen
und harmonischen Aufbau der Gruppe die ausgiebigste Nahrung.
Die leitenden Gestirne der Künstlerrepublik am Arno, Leonardo
und Michelangelo, gehen auch für ihn auf; er erfasst sie aber zu-
nächst nur vom Standpunkte seines einseitig begrenzten Interessen-
kreises. Man kann sagen, dass ihm während der florentiner Zeit die
Anordnung der Figuren in der Fläche Alles ist und darüber oft man-
ches zurücktreten muss, was sein zartes Feingefühl vorher oder in
der Zeit der Reife nicht vernachlässigt hätte. Wie schon früher, so
dient ihm auch jetzt zunächst die Madonna im Brustbild und
Kniestück als Studienobject. Bald aber geht er dazu über, sie
auch in ganzer Gestalt in der Landschaft zu geben. Leonardo
war darin sein Wegweiser. Dieser hatte den architektonischen
Aufbau der Gruppe im Sinne des Fra Filippo weiterentwickelt
und zu gesetzmässiger Vollendung gebracht. Von seinem Engel
in der Taufe Christi des Verrocchio an bis herauf zur Grotten-
modonna in London hält er an dem Prinzip des statischen Auf-
baues der Composition in Form eines gleichschenkligen Drei-
eckes, allenfalls mit coulisseuartiger Einschiebung der Neben-
gruppen und Stützung der Hauptgruppe durch seitliche Figuren-
pfeiler fest.1
Raphael strebt zunächst in Florenz eifrig darnach Leonardo
im Aufbau der Hauptgruppe zu erreichen. Es ist öfters hervor-
1 Vgl. Jahrbuch d. kgl. preuss. Kunstsammlungen 1895.
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Grundrissdreieckes aufragen, die öde, historische Gestaltenmasse
gliedern und idealisiren, endlich als Grundpfeiler der Composition
dadurch, dass sie alle drei nach oben blicken, zur oberen Gruppe
überleiten, das ist mit so sicherem und einfachem Tact, aus
einem vorwiegend architektonischen Stilgefühle geschaffen, dass
wir darin schon klar die Neigung erkennen, welcher Raphael zu-
nächst folgen sollte. Was da, noch im Rahmen der alten Com-
positionsart, durchbricht, ist in der Disputa zur Blüte entwickelt
und in der hl. Cäcilie einer, eine neue Stilwandlung bezeichnenden
Verflachung anheimgefallen.
In Florenz erhält Raphaels Streben nach einem statischen
und harmonischen Aufbau der Gruppe die ausgiebigste Nahrung.
Die leitenden Gestirne der Künstlerrepublik am Arno, Leonardo
und Michelangelo, gehen auch für ihn auf; er erfasst sie aber zu-
nächst nur vom Standpunkte seines einseitig begrenzten Interessen-
kreises. Man kann sagen, dass ihm während der florentiner Zeit die
Anordnung der Figuren in der Fläche Alles ist und darüber oft man-
ches zurücktreten muss, was sein zartes Feingefühl vorher oder in
der Zeit der Reife nicht vernachlässigt hätte. Wie schon früher, so
dient ihm auch jetzt zunächst die Madonna im Brustbild und
Kniestück als Studienobject. Bald aber geht er dazu über, sie
auch in ganzer Gestalt in der Landschaft zu geben. Leonardo
war darin sein Wegweiser. Dieser hatte den architektonischen
Aufbau der Gruppe im Sinne des Fra Filippo weiterentwickelt
und zu gesetzmässiger Vollendung gebracht. Von seinem Engel
in der Taufe Christi des Verrocchio an bis herauf zur Grotten-
modonna in London hält er an dem Prinzip des statischen Auf-
baues der Composition in Form eines gleichschenkligen Drei-
eckes, allenfalls mit coulisseuartiger Einschiebung der Neben-
gruppen und Stützung der Hauptgruppe durch seitliche Figuren-
pfeiler fest.1
Raphael strebt zunächst in Florenz eifrig darnach Leonardo
im Aufbau der Hauptgruppe zu erreichen. Es ist öfters hervor-
1 Vgl. Jahrbuch d. kgl. preuss. Kunstsammlungen 1895.