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Correggio.
oder Herabstürzen in Composition, Inhalt und Form. Josef
und der Engelreigen in der Palmenkrone sind wie der Hirt und
die Engel in der Nacht aus dem Geiste der Domkuppel geboren.
Die Madonna will eben den Napf mit Wasser füllen oder füllen
lassen; sie sieht den Knaben zuwartend an, der sie dadurch, dass
er ihren linken Arm festhält, am Vorneigen hindert. Zugleich
aber greift er mit der rechten Hand zurück nach oben, woher
ihm Josef mit herzlich derbem Zuruf oder Lachen Früchte reicht.
Nicht genug aber, dass Christus so durch diese, ähnlich auch
in der Madonna del latte (Kn. 59) zu beobachtende Zweiteilung
der Handlung die Verbindung in der diagonal hochdrängenden
Composition herstellt, wendet er auch noch den Kopf genau mit
demselben Ausdruck aus dem Bilde heraus wie im Putto-Gany-
med. Hier aber soll jemand diese Bewegung für einfach und na-
türlich halten! Es ist ein verführerisches Kokettiren mit dem Be-
schauer, das zwar recht schön wirkt und beim Publikum unge-
zählte Ach und Weh des Entzückens hervorruft, innerlich aber
hohl und von äusserster Gefahr für die Erhaltung der von der
Renaissance seit Giotto so sehr gepflegten Wahrhaftigkeit des
künstlerischen Ausdruckes wurde. Man beobachte nur, was diese
Pose gelogen hat von' Guido Reni's Beatrice Cenci an bis auf
unsere modernen sog. Künstlerphotographien. Man könnte die
Sünde nicht besser malen.
Fassen wir zusammen: Correggio gelangt offenbar an der
Hand seiner Kuppelmalereien zur vollen Freiheit; gleichzeitig
schlägt er auch in seinen Tafelgemälden denselben Ton an. Der
Umschwung ist derselbe, wie wir ihn gleichzeitig auch in Venedig
und in erster Linie bei Tizian beobachten können: das male-
risch Wirkungsvolle tritt an die Stelle des schlicht Notwendigen.
Die Kunst tritt aus dem Tempel heraus, lässt sich gehen.
Der Leser wird vielleicht die Empfindung teilen, dass wir diesen
Vorgang bei Correggio wie bei keinem zweiten Meister greifbar
vor uns haben. Und greifbar lässt sich auch beobachten, wie sich,
nachdem der Künstler den entscheidenden Schritt gethan hat, seine
Kunst immer mehr vermenschlicht.
Das zeigt sich besonders in der Umbildung, die er wie Tizian
Correggio.
oder Herabstürzen in Composition, Inhalt und Form. Josef
und der Engelreigen in der Palmenkrone sind wie der Hirt und
die Engel in der Nacht aus dem Geiste der Domkuppel geboren.
Die Madonna will eben den Napf mit Wasser füllen oder füllen
lassen; sie sieht den Knaben zuwartend an, der sie dadurch, dass
er ihren linken Arm festhält, am Vorneigen hindert. Zugleich
aber greift er mit der rechten Hand zurück nach oben, woher
ihm Josef mit herzlich derbem Zuruf oder Lachen Früchte reicht.
Nicht genug aber, dass Christus so durch diese, ähnlich auch
in der Madonna del latte (Kn. 59) zu beobachtende Zweiteilung
der Handlung die Verbindung in der diagonal hochdrängenden
Composition herstellt, wendet er auch noch den Kopf genau mit
demselben Ausdruck aus dem Bilde heraus wie im Putto-Gany-
med. Hier aber soll jemand diese Bewegung für einfach und na-
türlich halten! Es ist ein verführerisches Kokettiren mit dem Be-
schauer, das zwar recht schön wirkt und beim Publikum unge-
zählte Ach und Weh des Entzückens hervorruft, innerlich aber
hohl und von äusserster Gefahr für die Erhaltung der von der
Renaissance seit Giotto so sehr gepflegten Wahrhaftigkeit des
künstlerischen Ausdruckes wurde. Man beobachte nur, was diese
Pose gelogen hat von' Guido Reni's Beatrice Cenci an bis auf
unsere modernen sog. Künstlerphotographien. Man könnte die
Sünde nicht besser malen.
Fassen wir zusammen: Correggio gelangt offenbar an der
Hand seiner Kuppelmalereien zur vollen Freiheit; gleichzeitig
schlägt er auch in seinen Tafelgemälden denselben Ton an. Der
Umschwung ist derselbe, wie wir ihn gleichzeitig auch in Venedig
und in erster Linie bei Tizian beobachten können: das male-
risch Wirkungsvolle tritt an die Stelle des schlicht Notwendigen.
Die Kunst tritt aus dem Tempel heraus, lässt sich gehen.
Der Leser wird vielleicht die Empfindung teilen, dass wir diesen
Vorgang bei Correggio wie bei keinem zweiten Meister greifbar
vor uns haben. Und greifbar lässt sich auch beobachten, wie sich,
nachdem der Künstler den entscheidenden Schritt gethan hat, seine
Kunst immer mehr vermenschlicht.
Das zeigt sich besonders in der Umbildung, die er wie Tizian