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II. Raphael und Bramante.
angelangt. Er hat seinen ersten Lehrer darin, Leonardo, weit hinter
sich gelassen. Es scheint mir unmöglich, dass ihm das ohne fremde
Beihülfe in so kurzer Zeit gelungen sein kann. Ich verstehe diesen
Abschnitt seiner Entwicklung nur, wenn ich mir Bramante als Be-
rater an seine Seite denke.
Gehen wir weiter zur Kritik des Heliodorbildes. Der Abstand,
der zwischen der ersten und zweiten Stanze besteht, ist ein ähnlich
grosser, wie der zwischen dem umbro-florentinischen Madonnen-
maler und dem Schöpfer von Disputa und Schule von Athen.
Dieses Sprunghafte in der Entwicklung Raphaels, das ihn so or-
ganisch sich entwickelnden Naturkräften wie Leonardo und Michel-
angelo gegenüber kennzeichnet, erklärt sich eben daraus, dass er
die bahnbrechenden Ideen der beiden andern, vorläufig des Leo-
nardo, zuerst rein naiv als einen vereinzelten Fall aufnimmt und
anwendet, bis ihm plötzlich und überraschend die volle Erkenntnis
des Gesetzes und seiner Tragweite kommt. In Florenz tastet er
noch an der Kunst eines Leonardo und Michelangelo herum, in
Rom erst erkennt er ihre Grösse und das allgemeine Gesetz.
In der Stanza della Segnatura steht er ganz unter Bramantes Ein-
fluss und unter dem Eindrücke von Leonardos Normen für die
Bildung des künstlichen Raumes, tastend greift er auch schon
nach dem Lichte, aber erst in der zweiten Stanze ist ihm die
Grösse dieses Problems aufgegangen und sofort führt er es auch
bis zum Aeussersten, der Fakel- und Mondscheinscene in der
Befreiung Petri (Kl. B. 590) durch. Den Höhepunkt dieser Ent-
wicklungsphase, wo sich das Neue in ihm zu strotzender Kraft
des Könnens verdichtet, stellt die Vertreibung des Heliodor
dar (Kl. 592/3). Es ist gewiss die kühnste Schöpfung Raphaels,
wo er, ganz äusser sich, zum ersten Mal etwas leistet, was seiner
ursprünglichen Anlage gerade entgegengesetzt ist, und worin
der edelste, königliche Sprössling der Renaissance zum Wort-
führer des Barock wird.
Gehört zum Wesen der Renaissance statisches Gleichgewicht
1 Vgl. Wölfflin, Renaissance und Barock. S. 16.
II. Raphael und Bramante.
angelangt. Er hat seinen ersten Lehrer darin, Leonardo, weit hinter
sich gelassen. Es scheint mir unmöglich, dass ihm das ohne fremde
Beihülfe in so kurzer Zeit gelungen sein kann. Ich verstehe diesen
Abschnitt seiner Entwicklung nur, wenn ich mir Bramante als Be-
rater an seine Seite denke.
Gehen wir weiter zur Kritik des Heliodorbildes. Der Abstand,
der zwischen der ersten und zweiten Stanze besteht, ist ein ähnlich
grosser, wie der zwischen dem umbro-florentinischen Madonnen-
maler und dem Schöpfer von Disputa und Schule von Athen.
Dieses Sprunghafte in der Entwicklung Raphaels, das ihn so or-
ganisch sich entwickelnden Naturkräften wie Leonardo und Michel-
angelo gegenüber kennzeichnet, erklärt sich eben daraus, dass er
die bahnbrechenden Ideen der beiden andern, vorläufig des Leo-
nardo, zuerst rein naiv als einen vereinzelten Fall aufnimmt und
anwendet, bis ihm plötzlich und überraschend die volle Erkenntnis
des Gesetzes und seiner Tragweite kommt. In Florenz tastet er
noch an der Kunst eines Leonardo und Michelangelo herum, in
Rom erst erkennt er ihre Grösse und das allgemeine Gesetz.
In der Stanza della Segnatura steht er ganz unter Bramantes Ein-
fluss und unter dem Eindrücke von Leonardos Normen für die
Bildung des künstlichen Raumes, tastend greift er auch schon
nach dem Lichte, aber erst in der zweiten Stanze ist ihm die
Grösse dieses Problems aufgegangen und sofort führt er es auch
bis zum Aeussersten, der Fakel- und Mondscheinscene in der
Befreiung Petri (Kl. B. 590) durch. Den Höhepunkt dieser Ent-
wicklungsphase, wo sich das Neue in ihm zu strotzender Kraft
des Könnens verdichtet, stellt die Vertreibung des Heliodor
dar (Kl. 592/3). Es ist gewiss die kühnste Schöpfung Raphaels,
wo er, ganz äusser sich, zum ersten Mal etwas leistet, was seiner
ursprünglichen Anlage gerade entgegengesetzt ist, und worin
der edelste, königliche Sprössling der Renaissance zum Wort-
führer des Barock wird.
Gehört zum Wesen der Renaissance statisches Gleichgewicht
1 Vgl. Wölfflin, Renaissance und Barock. S. 16.