IV. Raphaels Grosser Stil.
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stark äusserlich zusammengestellt. Ein Moment tritt neu ein : der
bis zum Aeussersten gesteigerte Realismus in den beiden Krüppeln
im Vordergründe; damit ist die Bahn betreten, die in dem Mond-
süchtigen der Transfiguration gipfelt. Ueberraschend ist die bis
zur Rücksichtslosigkeit gesteigerte Kraft, mit der Raphael diese
Motive dem Beschauer vor Augen stellt. Es ist als hätte er ein
Bedürfnis empfunden, der Natur zu opfern, wo er sonst so tief im
Stil von Antike und Michelangelo befangen war. Darin und in der
Einführung der dicht stehenden, gewundenen Säulen geht Raphael
einen Schritt weiter auf dem Wege zum Barock.
Das Opfer zu Lystra setzt, wie die Galathea, die genaue Be-
kanntschaft Raphaels mit der antiken Denkmälerwelt voraus, zu
deren Conservator er ja in demselben Jahre, in dem man die Tep-
piche bestellte, ernannt wurde. Seine Studien müssen so eingehend
gewesen sein, wie die der französischen Klassicisten und Roman-
tiker. Als David seine Versöhnung des Romulus und Tatius ge-
malt hatte, setzte er an den Schluss des Programms, das dem
Beschauer in die Hand gegeben wurde, den Satz: „Als ich dieses
Bild malte, war es meine Absicht, die antiken Sitten mit solcher
Genauigkeit zu schildern, dass die Griechen und Römer, wenn
sie mein Werk sehen könnten, gefunden hätten, dass ich mit
ihren Gewohnheiten vertraut bin."1 Auch Raphael verfolgte ähn-
liche Ziele, sein Opfer könnte von einem Unbefangenen für
antik gehalten werden. Zu bewundern ist, wie er sich trotzdem
beim Ausbau der gegebenen Composition so frei und gross wie
in der Gestalt des Paulus, und so treffend realistisch wie in der
Figur gegenüber geben konnte, wo ein halbverthierter Lahmer,
der eben geheilt wurde, den vermeintlichen Gott anbetet.
Die Predigt Pauli auf dem Areopag gehört zum Bedeutend-
sten was Raphael geschaffen hat, man muss nur die sehr stark
durcheinandergeschobenen Architekturen des Hintergrundes etwas
aus dem Spiele lassen. Paulus wächst dann noch mächtiger empor.
So hat selbst Michelangelo den Schöpfer nicht hinzustellen vermocht.
Und unübertroffen ist auch die lebensvolle Durchbildung der zu-
1 A. Rosenberg, Geschichte der modernen Kunst I (1894) S. 21.
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stark äusserlich zusammengestellt. Ein Moment tritt neu ein : der
bis zum Aeussersten gesteigerte Realismus in den beiden Krüppeln
im Vordergründe; damit ist die Bahn betreten, die in dem Mond-
süchtigen der Transfiguration gipfelt. Ueberraschend ist die bis
zur Rücksichtslosigkeit gesteigerte Kraft, mit der Raphael diese
Motive dem Beschauer vor Augen stellt. Es ist als hätte er ein
Bedürfnis empfunden, der Natur zu opfern, wo er sonst so tief im
Stil von Antike und Michelangelo befangen war. Darin und in der
Einführung der dicht stehenden, gewundenen Säulen geht Raphael
einen Schritt weiter auf dem Wege zum Barock.
Das Opfer zu Lystra setzt, wie die Galathea, die genaue Be-
kanntschaft Raphaels mit der antiken Denkmälerwelt voraus, zu
deren Conservator er ja in demselben Jahre, in dem man die Tep-
piche bestellte, ernannt wurde. Seine Studien müssen so eingehend
gewesen sein, wie die der französischen Klassicisten und Roman-
tiker. Als David seine Versöhnung des Romulus und Tatius ge-
malt hatte, setzte er an den Schluss des Programms, das dem
Beschauer in die Hand gegeben wurde, den Satz: „Als ich dieses
Bild malte, war es meine Absicht, die antiken Sitten mit solcher
Genauigkeit zu schildern, dass die Griechen und Römer, wenn
sie mein Werk sehen könnten, gefunden hätten, dass ich mit
ihren Gewohnheiten vertraut bin."1 Auch Raphael verfolgte ähn-
liche Ziele, sein Opfer könnte von einem Unbefangenen für
antik gehalten werden. Zu bewundern ist, wie er sich trotzdem
beim Ausbau der gegebenen Composition so frei und gross wie
in der Gestalt des Paulus, und so treffend realistisch wie in der
Figur gegenüber geben konnte, wo ein halbverthierter Lahmer,
der eben geheilt wurde, den vermeintlichen Gott anbetet.
Die Predigt Pauli auf dem Areopag gehört zum Bedeutend-
sten was Raphael geschaffen hat, man muss nur die sehr stark
durcheinandergeschobenen Architekturen des Hintergrundes etwas
aus dem Spiele lassen. Paulus wächst dann noch mächtiger empor.
So hat selbst Michelangelo den Schöpfer nicht hinzustellen vermocht.
Und unübertroffen ist auch die lebensvolle Durchbildung der zu-
1 A. Rosenberg, Geschichte der modernen Kunst I (1894) S. 21.