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IV. Raphaels Grosser Stil.
sichtspunkte componirt wie die Grablegung; es herrscht derselbe
Parallelismus in der Führung der Gliedmassen vor, wie dort und
in Michelangelos Pieta, die bereits oben als Musterbeispiel dafür
vorgeführt wurde. Die Gesammtrichtung des Rumpfes entspricht
dem linken Oberarm Mariae, ihr Unterarm und das, zum Teil
wohl deshalb quer über die Brust gelegte Schleiertuch dem rechten
Oberschenkel des Kindes, dessen Unterschenkel der Richtung des
eigenen Fusses. Die Absicht tritt vielleicht am deutlichsten in
der Führung der beiden Unterarme hervor : das Motiv des linken
Armes ist frei gewählt, der rechte aber musste dem entsprechend
angeordnet werden. Der Mantel der Mutter ist deshalb so gelegt,
dass die Finger, in den Bug eingreifend, den Arm in der gefor-
derten Richtung halten — ganz wie in Michelangelos Pietä.
Die Sixtinische Madonna kann als Schlüssel zum Wesen ihres
Schöpfers und als der beste Beleg dafür gelten, wie Raphael bei
all der unendlichen Fülle von Anregung, die er von der älteren
und gleichzeitigen Kunst in sich aufgenommen hat, doch durch
und durch selbständig bleiben und frei von allem schwächlichen
Eklekticimus das Gute, das ihm entgegentrat, mit innerer Glut in
sich aufnehmen und, durch das eigene Empfinden geläutert, ver-
werten konnte.
Raphael war seiner Natur nach durch und durch naiv. Mit den-
selben Augen, mit denen die Sixtinische Madonna aus dem Bilde
herausblickt, sah er in die Welt. Es ist neuerdings gesagt worden,1
das Rätsel dieses Blickes liege darin, dass Raphael Mutter und
Kind die Augen weit aufschlagen und den Beschauer in glei-
cher Richtung voll und gerade anschauen lasse; in keinem älteren
Bilde hätten Maria und ihr Sohn so ernst, tief und hoheitsvoll
dreingeblickt, sie hätten den Beschauer auch noch niemals so un-
mittelbar und durchdringend angeblickt. Ich glaube nicht, dass
damit das Richtige getroffen ist. Einen durchdringenden Blick hat
auch Herkomers Dame in Weiss, Miss Grant, Augen, die dem
Beschauer überallhin folgen, auch die Königin Luise von Gustav
Richter. In diesen Bildern sind die Augen wirklich in gleicher
1 Woermann nach Portig in der Kunst für Alle IX (1894) S. 134.
IV. Raphaels Grosser Stil.
sichtspunkte componirt wie die Grablegung; es herrscht derselbe
Parallelismus in der Führung der Gliedmassen vor, wie dort und
in Michelangelos Pieta, die bereits oben als Musterbeispiel dafür
vorgeführt wurde. Die Gesammtrichtung des Rumpfes entspricht
dem linken Oberarm Mariae, ihr Unterarm und das, zum Teil
wohl deshalb quer über die Brust gelegte Schleiertuch dem rechten
Oberschenkel des Kindes, dessen Unterschenkel der Richtung des
eigenen Fusses. Die Absicht tritt vielleicht am deutlichsten in
der Führung der beiden Unterarme hervor : das Motiv des linken
Armes ist frei gewählt, der rechte aber musste dem entsprechend
angeordnet werden. Der Mantel der Mutter ist deshalb so gelegt,
dass die Finger, in den Bug eingreifend, den Arm in der gefor-
derten Richtung halten — ganz wie in Michelangelos Pietä.
Die Sixtinische Madonna kann als Schlüssel zum Wesen ihres
Schöpfers und als der beste Beleg dafür gelten, wie Raphael bei
all der unendlichen Fülle von Anregung, die er von der älteren
und gleichzeitigen Kunst in sich aufgenommen hat, doch durch
und durch selbständig bleiben und frei von allem schwächlichen
Eklekticimus das Gute, das ihm entgegentrat, mit innerer Glut in
sich aufnehmen und, durch das eigene Empfinden geläutert, ver-
werten konnte.
Raphael war seiner Natur nach durch und durch naiv. Mit den-
selben Augen, mit denen die Sixtinische Madonna aus dem Bilde
herausblickt, sah er in die Welt. Es ist neuerdings gesagt worden,1
das Rätsel dieses Blickes liege darin, dass Raphael Mutter und
Kind die Augen weit aufschlagen und den Beschauer in glei-
cher Richtung voll und gerade anschauen lasse; in keinem älteren
Bilde hätten Maria und ihr Sohn so ernst, tief und hoheitsvoll
dreingeblickt, sie hätten den Beschauer auch noch niemals so un-
mittelbar und durchdringend angeblickt. Ich glaube nicht, dass
damit das Richtige getroffen ist. Einen durchdringenden Blick hat
auch Herkomers Dame in Weiss, Miss Grant, Augen, die dem
Beschauer überallhin folgen, auch die Königin Luise von Gustav
Richter. In diesen Bildern sind die Augen wirklich in gleicher
1 Woermann nach Portig in der Kunst für Alle IX (1894) S. 134.