IV. Raphaels Grosser Stil.
67
Richtung voll und gerade dem Beschauer zugewendet. Nicht so bei
Raphael. Das Auge seiner Jungfrau blickt über den Beschauer
hinweg, die Augenaxen sind parallel nach rechts hin gerichtet,
kein bestimmter Gegenstand dient ihnen als äusserer Halt. Das, was
an diesem Blicke so fesselt, ist das innere Sehen, welches zum Spiegel
der Seele wird. So müssen wir uns auch Raphael denken, wenn
er im Anschauen verloren, Eindrücke in sich aufnahm: im Blick
der Madonna kann man sich klar machen, mit welchem Ernst
die Aussenwelt in seinem Innern verarbeitet wurde. Und das ge-
schieht durchaus naiv, activ, in voller Klarheit. So blickt ein
Kind in die Welt, ohne Absicht, rein aufnehmend.
Ganz anders Christus. In ihm steckt der Uebermensch des
Michelangelo. In der selbstbewussten Haltung, dem stark aufge-
worfenen Mund und den fast aus den Höhlen tretenden Augen
liegt Wille, unbeugsamer, schöpferischer Wille ausgesprochen.
Raphael hatte der Form nach etwas Aehnliches geschaffen im Adam
der Disputa; dort aber fehlt dem Gefäss noch der Inhalt, die
Schönheit des männlichen Körpers, der Adel der Bewegung fesseln
dort noch ausschliesslich den Künstler. In dem Christus der Sixtina
aber liegt jene bis zum Leiden gesteigerte Kraft des Willens aus-
gesprochen, jene Wucht einer inneren Last, die Michelangelos
Gestalten so erfüllt und niederdrückt, dass sie einer schweren
Apathie verfallen scheinen. Ich denke dabei an die Gestalten der
Mediceergräber oder den Sklaven zwischen den beiden ersten
Schöpfungsbildern der Sixtinischen Decke über Jeremias, der Ra-
phaels Christus in der Sixtina verwandt ist.
Gehen wir weiter. Unsere Untersuchung hat gezeigt, dass
Raphael eine Zeit hatte, wo ihm eine nach architektonischen Ge-
sichtspunkten aufgebaute Composition Alles galt, dann eine Ent-
wicklungsphase, wo die räumliche Anordnung, Licht- und Schat-
tenprobleme obenan standen, endlich eine dritte und letzte Periode,
wo die plastische Rundung des menschlichen Körpers über Com-
position und Inhalt siegten. In der Sixtina sind alle diese sonst
getrennt auftretenden Bemühungen zu einem infolgedessen uner-
reicht dastehenden Ganzen verschmolzen. Wenn eine Schwäche ge-
blieben ist, so liegt sie in dem Zerstückeln der Farbe in bunte Local-
67
Richtung voll und gerade dem Beschauer zugewendet. Nicht so bei
Raphael. Das Auge seiner Jungfrau blickt über den Beschauer
hinweg, die Augenaxen sind parallel nach rechts hin gerichtet,
kein bestimmter Gegenstand dient ihnen als äusserer Halt. Das, was
an diesem Blicke so fesselt, ist das innere Sehen, welches zum Spiegel
der Seele wird. So müssen wir uns auch Raphael denken, wenn
er im Anschauen verloren, Eindrücke in sich aufnahm: im Blick
der Madonna kann man sich klar machen, mit welchem Ernst
die Aussenwelt in seinem Innern verarbeitet wurde. Und das ge-
schieht durchaus naiv, activ, in voller Klarheit. So blickt ein
Kind in die Welt, ohne Absicht, rein aufnehmend.
Ganz anders Christus. In ihm steckt der Uebermensch des
Michelangelo. In der selbstbewussten Haltung, dem stark aufge-
worfenen Mund und den fast aus den Höhlen tretenden Augen
liegt Wille, unbeugsamer, schöpferischer Wille ausgesprochen.
Raphael hatte der Form nach etwas Aehnliches geschaffen im Adam
der Disputa; dort aber fehlt dem Gefäss noch der Inhalt, die
Schönheit des männlichen Körpers, der Adel der Bewegung fesseln
dort noch ausschliesslich den Künstler. In dem Christus der Sixtina
aber liegt jene bis zum Leiden gesteigerte Kraft des Willens aus-
gesprochen, jene Wucht einer inneren Last, die Michelangelos
Gestalten so erfüllt und niederdrückt, dass sie einer schweren
Apathie verfallen scheinen. Ich denke dabei an die Gestalten der
Mediceergräber oder den Sklaven zwischen den beiden ersten
Schöpfungsbildern der Sixtinischen Decke über Jeremias, der Ra-
phaels Christus in der Sixtina verwandt ist.
Gehen wir weiter. Unsere Untersuchung hat gezeigt, dass
Raphael eine Zeit hatte, wo ihm eine nach architektonischen Ge-
sichtspunkten aufgebaute Composition Alles galt, dann eine Ent-
wicklungsphase, wo die räumliche Anordnung, Licht- und Schat-
tenprobleme obenan standen, endlich eine dritte und letzte Periode,
wo die plastische Rundung des menschlichen Körpers über Com-
position und Inhalt siegten. In der Sixtina sind alle diese sonst
getrennt auftretenden Bemühungen zu einem infolgedessen uner-
reicht dastehenden Ganzen verschmolzen. Wenn eine Schwäche ge-
blieben ist, so liegt sie in dem Zerstückeln der Farbe in bunte Local-