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IV. Raphaels Grosser Stil.
Berge liegen. Das Volk lief dort zusammen, man nahm den Mond-
süchtigen in die Mitte und setzte sich nach dem Berge zu in Be-
wegung: so nahte der Zug mit lautem Geschrei aus der Schlucht
von rechts heran. Der Aufmarsch der Gruppen lässt darüber
keinen Zweifel, sie stehen sicli jetzt schräg gegenüber.
Es liegt mir fern zu behaupten, Raphael habe bei Schaffung
dieser Anordnung an Leonardos Grottenmadonna gedacht. Un-
bewusst vielleicht sind hier alte mächtige Eindrücke zu neuer,
gewaltiger That erwachsen. Bewusst aber entstanden ist jeden-
falls die zweite Beziehung zu Leonardo, die in der Apostelgruppe
deutlich hervortritt. Man erinnere sich wie Goethe Leonardos
Abendmahl deutet: Das Aufregungsmittel, wodurch der Künstler
die ruhige Abendtafel erschüttert, sind die Worte des Meisters:
„Einer ist unter Euch, der mich verräth!" Ausgesprochen sind
sie, die ganze Gesellschaft kommt darüber in Unruhe u. s. w. 1
Man setze statt der Worte Christi die Vorführung des Mond-
süchtigen, statt der Abendtafel das ruhige Beisammensein im
Freien und hat eine ähnliche dramatische Situation, nur malerisch
unendlich viel dankbarer als das Abendmahl. Soweit kann Alles
Zufall sein. Nicht zufällig aber ist, dass an einzelnen Aposteln
Raphaels dieselben Typen von Bewegung und Gestus beobachtet
werden können, wie in Leonardos Abendmahl. Den unabweisbaren
Beleg dafür gibt die Mittelgruppe am Fusse des Berges. Dort sehen
wir neben einem Sitzenden links einen Jüngling, der sich vorneigt,
rechts einen, der nach dem Knaben weist, und dazwischen einen
dritten, der über den Sitzenden wegsieht. Nun, diese drei oder vier
Figuren sind so entschieden leonardisch, wie nur je eine Gestalt in
Raphaels früheren Schöpfungen. Der sitzende Apostel, welcher nach
rechts hin blickt und beide Hände mit zugeneigten Daumen offen
vor die Brust hält, entspricht L. 4 (Andreas) im Abendmahl. Der
schöne Jüngling mit langem Lockenhaar, der sich voll warmer
Theilnahme vorbeugt und die Hände auf die Brust legt, als
wollte er sagen: „ich möchte ja gern helfen, aber ich kann
1 Vgl. dazu meinen Aufsatz Leonardo's Abendmahl und Goethes
Deutung im Goethe Jahrbuch 1896.
IV. Raphaels Grosser Stil.
Berge liegen. Das Volk lief dort zusammen, man nahm den Mond-
süchtigen in die Mitte und setzte sich nach dem Berge zu in Be-
wegung: so nahte der Zug mit lautem Geschrei aus der Schlucht
von rechts heran. Der Aufmarsch der Gruppen lässt darüber
keinen Zweifel, sie stehen sicli jetzt schräg gegenüber.
Es liegt mir fern zu behaupten, Raphael habe bei Schaffung
dieser Anordnung an Leonardos Grottenmadonna gedacht. Un-
bewusst vielleicht sind hier alte mächtige Eindrücke zu neuer,
gewaltiger That erwachsen. Bewusst aber entstanden ist jeden-
falls die zweite Beziehung zu Leonardo, die in der Apostelgruppe
deutlich hervortritt. Man erinnere sich wie Goethe Leonardos
Abendmahl deutet: Das Aufregungsmittel, wodurch der Künstler
die ruhige Abendtafel erschüttert, sind die Worte des Meisters:
„Einer ist unter Euch, der mich verräth!" Ausgesprochen sind
sie, die ganze Gesellschaft kommt darüber in Unruhe u. s. w. 1
Man setze statt der Worte Christi die Vorführung des Mond-
süchtigen, statt der Abendtafel das ruhige Beisammensein im
Freien und hat eine ähnliche dramatische Situation, nur malerisch
unendlich viel dankbarer als das Abendmahl. Soweit kann Alles
Zufall sein. Nicht zufällig aber ist, dass an einzelnen Aposteln
Raphaels dieselben Typen von Bewegung und Gestus beobachtet
werden können, wie in Leonardos Abendmahl. Den unabweisbaren
Beleg dafür gibt die Mittelgruppe am Fusse des Berges. Dort sehen
wir neben einem Sitzenden links einen Jüngling, der sich vorneigt,
rechts einen, der nach dem Knaben weist, und dazwischen einen
dritten, der über den Sitzenden wegsieht. Nun, diese drei oder vier
Figuren sind so entschieden leonardisch, wie nur je eine Gestalt in
Raphaels früheren Schöpfungen. Der sitzende Apostel, welcher nach
rechts hin blickt und beide Hände mit zugeneigten Daumen offen
vor die Brust hält, entspricht L. 4 (Andreas) im Abendmahl. Der
schöne Jüngling mit langem Lockenhaar, der sich voll warmer
Theilnahme vorbeugt und die Hände auf die Brust legt, als
wollte er sagen: „ich möchte ja gern helfen, aber ich kann
1 Vgl. dazu meinen Aufsatz Leonardo's Abendmahl und Goethes
Deutung im Goethe Jahrbuch 1896.