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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 2 (März 1910)
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Scheu, Robert: Kanonen aus Kirchenglocken
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0013

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Auflage 30000 Kxempiare

Umf£

DER S'IURA\

WOCHENSCHRIFT FÜR KULTUR UND DIE KÜNSTE

i^daktion und Veriag: Beriin-Halensee, Katharinenstrasse 5
refnsprecher Amt Wilmersdorf 3524. Anzeigen-Annahme
d'H'ch den Verlag und sämtliche Annoncen - Expeditionen

Herausgeber und Schriftleiter:
HERWARTH WALDEN

Einzelbezug 10 Pfennig / Vierteljahresbezug 2,00 Mark /
Halbjahresbezug 4,00 Mark / Jahresbezug 7,00 Mark / In-
sertionspreis filr die fiinfgespaitene Nonpareillezeile 60 Pfg.

Erster jahrgang

BERLIN/DONNERSTAG/DEN 10. MARZ 1910/WIEN

NÜMMER 2

i^HALT: ROBER.T SCHEU: Kanjnen au3 Kirchen-
f F| J^ en / ALFRFd UÖBLIN: DieTänzenn und derLeib/
j UAbKrK'-aCHÜLtR:.DerAmokiäufer/ KAKLKRAUS:

l et raundo / LUDWiü RUBINEK: Crommelynck/

I (lUJSsi 1/ ' ^BUTH: bemerkungen über Leistikow/
f ltarüek ^ : *^ er Aber8 laube der v orurteilslosen / Ferdinand
f niark,„ K°P 1: Eines Dramatikers letzte Stunde/A. D.: Das
Mbcne Ninive / JUoEPH AUüUST LUX: Kunst und

: Etü:

^nonen aus Kirchenglocken

° !* Hobert Scheu

| ^ er Tatsache, daß ein Staatswesen sehr

| aüc^ Sl^ nöig ist, liegt in einem gewissen Sinne
lich , etv/ as Hoffnungsweckendes, insofern näm-
j Voj/ U s bier ein ökonomisches und geistiges Reser-
speich Sebunclener Kräfte heimliche Energien auf-
j cJie a le[ t’ lieKt die suggestive Macht Rußlands,
[ >eih Uen öurch seine großen Niederlagen nur zeit-
»steuu^ ' orbieicbl> in öer sich aufdrängender Vor-
l Vt>rrät^’ tI' er £ ewaltige. unverbrauchte Kraft-
I In 2 ^ 111 Tag iiirer Erlösung entgegenharren.

|la«u eiten Srotier ahgemeiner Krisen ist die Be-
jgen ^ er ^ oikskraft mit gewichtigen Hemmun-
|dieSe einaile einem Quthaben gleichzuachten. In
I als s ri| ^ 11111* 2 könnte man die katholischen Staaten
i PanSj° C le betrachten, die noch einer großen Ex-
i mai ° n naei} innen fähig sind, wenn sie sich ein-
sParb^ nrSC^* le^ en solit en> 1116 gigantische Vöiker-
[ Schät UCnSe’ ^ le Kirche, zu liquidieren und ihre
iSäkuj Ze auszusclliitten. Sollte sich der große
I ernp„ arisationszauber nicht eines Tages wieder
| enern iassen?

ein P er Qeist der europäischen Staaten ist iängst
iebhaft rCnaus beidnischer. Mir drängt sich immer
sUUg er ^er Qedanke auf, daß die Staatsverfas-
IScher \T lni ietzten Grunde der Ausdruck militäri-
Uial Notwendigkeiten sind. Vielleicht gelingt ein-
St rate einein gründiichen Kenner der Taktik und
gegeb Sle aii er Zeiten der Nachweis, daß die jeweils
b eStirrf 0e ^ ormation der Truppen im Felde eine
^ziehf 1* 6 staatliche Konstitution nach sich zieht,
Samm'p n, gSweise von dieser bedingt ist. Der Zu-
im !lilang von Reiterei und Rittertum tritt schon
der Ka,f„ hervor- in dem Maße, als die Bedeutung
an pol Vallerie im Felde sinkt, büßt auch die Qentry
Schiachip Cilem Qewicht ein. Der geschlossenen
mir ,! thnie der friederizianischen Zeit scheint
Die \T r «afgeklärte Absolutismus zu entsprechen.
steheT, !lherrscilatt ^ er Artillerie ist durch das Be-
dingt ? roiier kapitalistischer Etablissements be-
ünd He er Kanonenkaiser Napoleon ist der Sohn
tragend r° S her bürgerlichen Revolution. Das weit-
öichten ° 7^ annii cber zwingt zur Auflösung der
Sch\Va ~ iele> uncl öie heute einzig mögliche
Aehn| inie ist auf militärischem Qebiete etwas
die bes, wie das Freilicht in der Malerei und
lich Njet *' Che M elocii e ln öer Musik, die bekannt-
hat, Ap Scile als eln Echo der Demokratie erraten
Limgen m°dernen Menschen dürfen ihre Hoff-
Sohtyar bv rnbigt der weltumwälzenden Macht der
baue a j ,nte anvertrauen. Ich für meine Person
.öingtejj f sie boilig und ziehe aus ihr den unbe-
[ Schlnß ’ . tast . möchie ich sagen, untrüglichen
> daß wir einem Zeitaiter einer streng heid-

nischen machtvollen Demokratie entgegengehen,
die gleichzeitig wieder dem Individuum eine ge-
wisse Ampltiude garantieren wird, was ich aus dem
Abstand der Kombattanten in der Schwarmlinie
beinahe ableiten könnte. Die moderne Feuerlinie —
aufgelöste Plänklerreihe — wird und muß ihr Spie-
gelbild in der Staatsverfassung finden; denn es ist
schlechthin unmöglich, auf Qrundlage eines feuda-
Iisierenden Regimes das entsprechende Material
für die Schwarmlinie zu rekrutieren, geschweige
denn im Felde mit ihr zu manipulieren. Der orga-
nisierte großstädtische industrielle Arbeiter ist das
beste und inteliigenteste Infanteriematerial der
modernen Feuertaktik, wie übrigens jeder üene-
ral bestätigen wird. Alle militärisch veranlagten
Köpfe liihlen das instinktiv und sind heute im Her-
zen demokratisch gesinnc.

Sollte zur Entkräftung dieser Theone vou dsm
innigen Zusammenhang zwischen der Qefechts-
formatiori unci der Staatsverfassung etwa auf die
'latsache hingewiesen werden, daß in einem und
demselben Zeitalter die verschiedensten Verfas-
fungen nebeneinander bestehen, während die aner-
kannte und jeweils geübte Taktik nur eine sei, so
würde ein genaueres Eingehen in die Geschichte
lehren, daß die Kriege eben der Prozeß sind, durch
den sich die Ausgleichung der Taktik vollzieht und
im Siege der Waffe auch stets eine Ueberlegenheit
der Staatsverfassung zum Ausdruck kam und an-
erkannt wurde. Die nachträgliche Analyse und
Diskussion aller kriegerischen Auseinandersetzun-
gen erweist die Notwendigkeit und Qerechtigkeit
des Sieges; umgekehrt wirken Niederlagen un-
fehlbar revolutior.ar, was niclit mit solcher Un-
mittelbarkeit unu Vehemenz der Fall sein könnte,
wenn es nicht geradezu die Staatsfassung wäre,
die im Qefecht unteriag.

Die europäische Opposition, gebildet aus der
Summe aller nach Entbindungen ringenden Kräfte,
erblickt in der Kirche und der Armee ihren ge-
meinsamen Feind und bekämpft die auf sie ge-
stützte Staatsmacht, ohne sich davon Rechenschaft
zu geben, daß die erstarkenden und gesunden
Staatswesen von immer lebhafterer Sehnsucht er-
füllt werden, ihr innerliches Heidentuin zu offen-
baren. Das immer deutiichere Einbekenntnis zu
einem kühnen Heidentum, die Abwendung des
Staates von der Kirche, wie sie von Paris, dem
Nabei der Erde, instradiert wird, ist das größte
moderne Ereignis. Allmählich fühlen sich die
Staatswesen hinreichend entwickelt, um der An-
lehnung an die Kirche zu entraten und zu ihrem
historischen Antagonismus zuriickzukehren. Die
europäische Opposition kämpft noch in ihrer alten
Zweifrontenstellung und befestigt dadurch künst-
lich ein Bündnis, das nahe daran ist, aus natür-
lichen Qründen zu zerfallen.

Armee und Kirche sind aber innerlich ver-
schiedene Kategorien. Die Kirche ist der imma-
nente Feind des weltiichen Staates und Fortschrit-
tes. Die Armee ist es nur akzidentiell, teilweise
und durch ihre Nebenwirkungen. Die Kirche haßt
den Staat, weil sie ein selbständiges, mit ihm riva-
lisierendes Prinzip ist. Die Armee ist weit weniger
herrschsüchtig, sie besitzt die Fähigkeit der Sub-

ordination und gewinnt ihr Uebergewicht wie etwa
ein hypertrophisches Glied eines Organismus, zu
dem es aber immer noch als ein Bestandteil ge-
hört. Die Kirche ist die Summe aller gebundenen
Geister, sie ist selbst nichts anderes als das Prin-
zip der Gebundenheit, die Autorität um ihrer selbst
willen, das mit Macht bekleidete Dogma, gleich-
güitig, welchen Inhalts. Sie ist in letzter Linie die
Organisation aller Schwachen. Die Armee ist eine
Ueberzeugungssache der Qesamtheit; ohne diese
— vielleicht irrige — Ueberzeugung von ihrer Not-
wendigkeit könnte sie kaum einen Tag bestehen.
Ihre gesamten Einrichtungen, so drückend sie sind,
werden ausschließlich vom Qeiste der Zweck-
mäßigkeit diktiert, sind, den Zweck einmal zuge-
geben, durchaus logisch. Die Armee ist prinzipiell
an der Volksbildung interessiert, ihre disziplinie-
rende Leistung hat teilweise einen Kulturwert. Sie
steht mit der Technik im Kontakt, befeuert und
inspiricit Jie Industrie nnd bleibt selbst in ihrer
parasnischen tciHanuii^ eiuc ^uci'k uei z.uciit-
und Kraftsteigerurig. Das militärische Prinzip der
Offenheit, eine gewisse mechanische Handhabung
in moralischen Dingen, im Qegensatz zum subjek-
tiven gedankenverfolenden Raffinement der Kir-
che, die Aufrichtigkeit in sexueller Beziehung —
all das läßt die Armee als die Inkarnation des Hei-
dentums erscheinen.

Können wir uns in dieser Gedankenfolge mit
dem Bestande der Armee nicht versöhnen, so kön-
nen wir uns doch mit ihm verständigen. Anderer-
seits nähert sich unsere Heeresverfassung ebenso
wie die militärische Wissenschaft immer mehr der
Erkenntnis von dem Hochwert der Milizen. Der
prätorianische Haudegen wird von der modernen
Figur des Zivilstrategen in den Schatten gestellt.
Rekrutierung, Aufmarsch, Verpflegung, Eisenbahn,
kurz die Miiitärverwaltung gewinnt an Bedeutung,
die Offiziere nähern sich dem Typus des Techni-
kers. Auf Basis der Demokratisierung und Zivi-
lisierung des Heeres überwinden wir den Milita-
risinus sicherer und tiefer als durch gehässige
Angriffe auf die Armee. Die Einführung des
Rechtsbegriffes in die Armee ist das nächste
große, aber nicht uniösbare Problem, zu dessen
Behandlung die einsichtigen Militärs geneigter sein
werden, sobald die prinzipielle Negation schwin-
det. Als Rekompenso für die Durchdringung der
Armee durch das Volk winkt die Durchdringung
des Volkes durch die Armee, die heute noch not-
wendige Synthese, die bei der gegebenen inter-
nationalen Konstellation die Grundlage zur Auf-
li'.sung des Militarismus bereiten wird.

Die Abschüttelung des entsetzlichen Spesen-
drucks, der faux frais, ist in allen Kulturstaaten
eine brennende Lebensfrage geworden. Der mo-
derne Staat erkennt seine Hauptaufgabe in der
Entwicklung der Machtstellung nach außen, der
handelspolitischen Expansion, einer umfassenden
Sozialpolotik, im Innern, die Herstellung des
Gleichgewichts und äußersten Entbindung der pro-
duktiven Kräfte und der Sicherung des Konsums.
Der heidnisch - militärisch - industrie]! - sozialpoli-
tische Macht- und Handelsstaat krystallisiert sich
mit äußerster Rapidität vor unseren Augen. Er

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