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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 12 (Mai 1910)
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Schickele, René: Theddy Roosevelt: Intense life
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0093

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DER STURM

WOCHENSCHRIFT FÜR KULTUR UND DIE KÜNSTE

iAHRGANG 1910 BERLIN/DONNERSTAG DEN 19.MA1 1910/WIEN NUMMER 12

!NHALT: REN£ SCHICKELE: Theddy Roosevelt/
£LSE LASKER-SCHÜLER: Karl Kraus / PAUL
LEPPIN: Daniel Jesus / Roman / ALBERT DREYFUS :
Dfei Reiher / ALFRED DÖBLIN: Gespräche mit
Kalypso iiber die Musik / PROGRESS: Fortschritt/
D.; Das Temperamrnt in der Isolierzelle / J. A.: Der
^achrichtenvogel / MIRKO JELUSIC: Vorlesung Karl
Eraus/MYNONA: Der Verzweifelte und sein Ende /
2e‘chnung von OSKAR KOKOSCHKA: Karl Kraus /
Eeachtenswerte Biicher und Tonwerke

Theddy Roosevelt

»intense life“

T rOn Rene Schickelc-Paris

Cincinnatus war ein Bauer des Altertums.
Roosevelt ist ein moderner Mensch und, wenn man
^cinen Worten Glauben schenkt, d e r moderne
Mensch, der Lebenstechniker, das menschliche
LLenbild einer periektionierten Lokomotive. So
e,npiindet sich Roosevelt. Aber er hat schreiben
kelernt, er war Journalist. Er ist in seinen schlech-
teren Stunden Philosoph. Als solcher vertritt er
Ansicht, daß die beste Lokomotive noch immer
Lesser werden kann. Wozu wir heute zwölf Stun-
nen brauchen, das werden unsere Söhne in acht, die
Lnkel in sechs Stunden bewältigen. Wenn man be-
eenkt, was Roosevelt heute bereits leistet, kann
p a_|> sich einen ungeiähren Begriff machen, was die
räzisionsschönheit einer amerikanischen Lebens-
ührung in fünfzig Jahren sein wird. Das Ideal, das
er seit einigen Jahren durch sein eigenes Beispiel
ln 'vuchtigen, von sämtlichen Zeitungen reproduzier-
en Klischees andeutet, nennt er „I n t e n s e 1 i f e“.

Als er diesmal nach Europa kam, hatte er nicht
p Ur> wie nun einmal der moderne Mensch seine
erien verbringt, zweitausend Stück afrikanisches
j V‘ldvieh erlegt, sondern die ausführlichen Berichte
üarÜber in allen Kultursprachen veröffentlicht, was
l u,b in der Hitze der Arbeit entfallen war, in zahl-
p * * * * Sen Interviews nachgeholt. Das Geheimnis seines
-rfolges besteht zum größten Teil in einer natür-
lchen Veranlagung zum Zwillingshaften, oder, philo-
uPhisch gesprochen, in einem sehr amerikanischen
. Uahsmus. Die konstante Größe, das ist die P u-
1' 1 z i t ä t. Das andere, Wechselnde: d a s , w a s
er t u t. Er tut sehr viel, aber er sagt noch öfter,
aß er ein Tatmensch ist. Während er einen Leo-
arden schießt, diktiert er es seinem Sekretär ins
tenogramm. Den zweiten, den er inzwischen auf-
LesPürt hat, schreibt er der Kürze halber gleich in
le Korrektur des ersten. Welche Biicher nahm er
j.h in die frikanische Wildnis? Das Rolands-
* ed und den Tartarin de Tarascon. Aller-
v‘ nSs mag er sich erinnert haben, daß die Könige
ergangener Zeiten sich Hofnarren hielten, was
'^eifellos Stärke bedeutete. „I n t e n s e 1 i f e.“
Eine der ersten europäischen Städte, die Roose-
eh besuchte, war Venedig. Die Stadt ist arm an
°dernen Verkehrsmitteln. Roosevelt brauchte

vier Stunden, um Venedig zu „machen", Morgens
besuchte er den Colleone, St. Giovanni e Paolo, St.
iviarco, den Dogenpalast, die Academia. Um halb
zwölf empfing er im Hotel Britannia den Stadt-
ältesten, um zwölf üen Herzog der Abruzzen, mit
dem er sich vierzig Minuten unterhielt. Beim
Mittagessen äußerte er, daß Venedig wahrscheinlich
die interessanteste Stadt der Welt sei. Urn 2 Uhr
21) Minuten bestieg er den Zug, nicht ohne vorher
einige bedeutsame Worte an die Behörden gerichtet
zu haben. Er muß auch während des Hürden-
rennens durch drei Jahrhunderte venetianischer
Kunst nicht schweigsam gewesen sein; denn die
Zeitungen füllten drei Spalten mit seinen Einfällen.
“Intense life“. Und er ist so bescheiden, sich für
perfektionierbar zu halten . . . Allerdings tun Mo-
narchen dasselbe, wie Roosevelt. Aber welcher
Monarch hält sich für einen Normaltyp? Das ist
das Erschreckciide air'uiesem~Republikäner, datf er
aus der ganzen Menschheit einen kleinen Roosevelt
inachen möchte.

Zu Lincolns Zeiten sprachen die Amerikaner
von Cincinnatus wie von einem kürzlich ver-
storbenen Landsmann. Heute nennen sie ihn beim
Vornamen: Teddy.

Die Franzosen, die sich von den Ameri-
kanerinnen sogar die Hüften ihrer Frauen ausreden
ließen, haben in Teddy einen „Repräsentanten der
Menschheit“ gefeiert. Wahr ist nur, daß Roosevelt
Emerson gelesen hat.

*

Teddy heißt auf deutsch: gesunder Menschen-
verstand. Es ist, als ob man sagte: Gabriel.
Verkündigung einer neuen Botschaft liegt in diesem
Namen, die Freude, das Gute zu erkennen, und der
Taumel der Empfängnis durch den republikanischen
Geist, die mystische Berührung eines „Gesandten“
mit der Menge, wobei die Menge „Hip, hip,
hurrah“ ruft und Teddy mit breiten Kinnladen
lächelnd den Zylinder schwingt.

Vor Jahren sah ich in der „Woche“ eine Photo-
graphie, die den Präsidenten Roosevelt auf der
Plattform eines Pullmannwagens darstellte, wie er
über einer offenbar begeisterten Menge den Zylinder
schwang. Am 23. April nachmittags gegen drei Uhr
war ich auf dem Wege zur Sorbonne, wo Teddy
sprechen sollte. Ein Auto kam den Boulevard St.
Michel herauf. Ich erkannte den Zylinder! Ich er-
kannte Teddy, als der Wagen*noch hundert Meter
entfernt war an der Art, wie er den Zylinder
schwang! Kein Mensch kann den Zylinder so
schwingen wie Teddy! Gewiß ist Fallieres ein leut-
seliger Herr. Ich habe die Menge den deutschen
Kaiser mit Begeisterung begriißen sehn, und auch
der Kaiser war in seiner Art leutselig, soviel, wie es
ein Kaiser eben sein darf. Aber Teddys Zylinder
vereinigt die Suggestionskraft einer volkstümlichen
Physiognomie mit dem .Adlerblick des Macht-
gekrönten. Teddys Zylinder tanzt über der be-
geisterten Menge den Cakewalk einer imperia-
listischen Republik — nicht mehr und nicht weniger.

Der Wagen kam näher, und ich erkannte ein
zweites, was mir an der Photographie der „Woche“
aufgefallen war: einen ungeheuren Mund zwischen
großen, wie Waffen blinkenden Zähnen. „Sprecht

Triedfertig", hat Teddy einmal geäußert, „und haitet
'uabei etnen guten Rnüppel in der Hand . . Da
er der verkörperte gesunde Menschenverstand ist,
wiil er die Vorschrilt nur von Seinesgleichen befolgt
sehn. Die Ruüppelträger auf der andern Seite der
Barrikade nennt er „verirrte I räumer, Wahnsinnige,
Bösewichte, die ihr guterGlaube nie vor der Nation
entschuldigen kann". Er ist von einer er-
schreckenden Unduldsainkeit gegen alle „Stören-
friede“. Sein gesunder Menschenverstand schreckt
vor etwas, wie einer republikanischen lnquisition
keineswegs zurück. Den Clou seiner Anschauungen
nennt er die Forderung, daß bei einern Konflikt
zwischen Eigentumsrecht und Menschenrecht das
Menschenrecht vorangehe . . . Teddy, was ist
Menschenrecht? Das Recht, das Menschen sich
nehmen und behaupten. Woran erkennt
man, daß Sieg des Menschenrechts „geboten er-
scheint“? Und was ist ein „gerechter" Rrieg, vor

dein ein Volk nicht zurückschrecken darf, selbst auf
die Gefahr hin unterzugehn? . . . Was nützt dem
vernichteten Volk die „Gerechtigkeit“ seiner Sache,
was schadet es dem Sieger, daß sein Krieg an-
geblich ein Verbrechen an der Menschheit war?
Der gesunde Menschenverstand sitzt im Magen.
Den Magen regieren seine Bedürfnisse. Die Be-
dürfnisse richten sich nach keiner philosophischen

Norm. . . Die Gründung Nordamerikas hat, in Blut
und Kot, mit der Vertilgung von zehn Millionen In-
dianern und wahnwitzigen Orgien begonnen, worin
Straßenräuber aller Arten sich von den Anstren-
gungen ihrer zivilisatorischen Beglückung aus-

ruhten. Die Trusts haben trotz ihrer bewunde-
rungswerten Perfektionierung die Tradition be-
wahrt. Kann Teddys gesunder Menschenverstand
ihnen im Ernst etwas anhaben? Der gesunde
Menschenverstand sagt im Gegenteil, daß jeder so-
viel Geld verdienen kann, wie er will. Er, Roose-
velt, hat sich mit drei oder sechs Millionen begnügt,
um sich dann, nach dem e i g n e n, dem Wohl des

S t a a t s zu widmen. Er nennt diese Methode vor-
bildlich für den „guten Bürger einer Republik“: er-
wirb dir zuerst ein großes Vermögen, dann wende
dich den öffentlichen Angelegenheiten zu. Von d e m
Republikanismus haben die Trusts nichts zu be-
fürchten. Ist es auszudenken, daß der Millionär dem
Multimillionär von nebenan Gewalt antut? Sie ge-
hören zur selben Familie. Dadurch, daß man die
fünfzig oder hundert Millionen des einen unsicher
machte, gerieten die fünf oder zehn des andern eben-
so in Gefahr. Millionäre können sich schlimmstenfalls
mit moraiischen Apercüs ärgern. Das Volk sieht zu
und hört seinen Magen knurren. Wird es zum
Sturm gerufen, so fallen a 11 e Millionen, die sechs-
beinigen wie die Tausendfüßer.

Wenn Roosevelt „gesunder Menschenverstand“
sagt, meint er die Interessen einer ge-
mäßigten Plutokratie. Bakunin versicherte
dagegen: „Es gibt nichts Revolutionäreres,
als den gesunden Menschenverstand.“ Dem saß
der gesunde Menschenverstand, weil er ein Intellek-
tueller war, im Ge h i r n. Er sah, was gerecht
wäre: nämlich, daß die Millionen hungriger Mägen
zu essen bekämen. Er war ein radikaler Denker,
der dem von Roosevelt verkündeten Terror der ge-

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