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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

DOI Heft:
Nr. 15 (Juni 1910)
DOI Artikel:
Weininger, Otto: Der Hund
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0119

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Einzelbezug: 10 Pfennig

DER STURM

WOCHENSCHRIFT FÜR KULTUR UND DIE KÜNSTE


Redaktion und Verlag: Berlin-Halensee, Katharinenstrasse 5
Fernsprecher Arat Wilmersdorf 3524 / Anzeigen-Annahme und
Geschäftsstelle: BerlinW35, Potsdamerstr. 111 / AmtVI 3444


Herausgeber und Schriftleiter:
HERWARTH WALDEN


Vierteijahresbezug 1,25 Mark : Halbjahresbezug 2,50 Mark/
Jahresbezug 5,00 Mark / beä freier Zustellung / Insertions-
preis für die fiinfgespaltene Nonpareillezeile 60 Pfennig

JAHRGANG 1910 BERLIN/DONNERSTAG DEN 9. JUNI 1910/WIEN NUMMER 15

INHALT: OTTO WEININGER: Der Hund/THAD-
DÄUS RITTNER: Thdatre parä/PAUL LEPPIN:
Daniel Jesus / Roman / ELSE LASKER-SCHÜLER:
Gedichte / ALFRED DÖBLIN: Gespräche mit Kalypso
über die Musik/PAUL SCHEERBART: Das neue
Kriegsinstrument / TRUST: Die blaue Blume /KARI-
KATUR: Oskar Fried

Der Hund

Von Otto Weininger

Das Auge des Hundes ruft unwiderstehlich den
Eindruck hervor, daß der Hund etwas verloren
habe: es spricht aus ihm (wie übrigens aus dem
ganzen Wesen des Hundes) eine gewisse rätsel-
hafte Beziehung zur Vergangenheit. Was er ver-
loren hat, ist das Ich, der Eigenwert, die Freiheit.

Der Hund hat eine merkwürdig tiefe Beziehung
zum Tode. Monate bevor mir der Hund ein Pro-
blem geworden war, saß ich eines Nachmittags
gegen fünf Uhr in einem Zimmer des Münchener
Gasthofes, in welchem ich abgestiegen war, und
dachte an Verschiedenes und über Verschiedenes.
Plötzlich hörte ich einen Hund in einer ganz eigen-
tümlichen, mir neuen, durchdringenden Weise
bellen und hatte im gleichen Momente unwider-
stehlich das Gefühl, daß gerade im Augenblick
jemand sterbe.

Monate nachher hörte ich, daß in der furcht-
barsten Nacht meines Lebens, da ich, ohne krank
zu sein, buchstäblich mit dem Tode rang, — denn
es gibt für größere Menschen den seelischen Tod
nicht ohne den physischen Tod, — weil bei ihnen
Leben und Tod am gewaltigsten und intensivsten

als Möglichkeiten sich gegenüberstehen-

dreimal, gerade als ich zu unterliegen dachte, einen
Hund in ähnlicher Weise bellen, wie damals in
München; dieser Hund bellte die ganze Nacht; aber
in diesen drei Malen anders. Ich bemerkte, daß ich
in diesem Momente mit den Zähnen mich ins Lein-
tuch festbiß eben wie ein Sterbender.

Aehnliche Erlebnisse müssen auch andere
Menschen gehabt haben. In der letzten Strophe
von Heines bedeutendstem und schönstem Gedichte
„Die Wallfahrt nach Kevlaar“ heißt es, wie die
vom Leben erlösende Mutter Gottes dem Kranken
sich naht:

„Die Hunde bellten so laut.“

Ich weiß nicht, ob der Zug bei Heine originell oder
der Volkssage entnommen ist. Wenn ich nicht
irre, spielt auch irgendwo bei Maeterlinck der
Hund eine ähnliche Rolle.

Kurze Zeit vor dieser erwähnten Nacht hatte
ich mehrfach dieselbe Vision, die Goethe nach dem
Faust zu schließen gehabt haben muß, einige Male,
wenn ich einen schwarzen Hund sah, schien mir ein
Feuerschein ihn zu begleiten.

Ausschlaggebend aber ist das Bellen des
Hundes: die absolut verneinende Ausdrucksbe-
wegung. Sie beweist, daß der Hund ein Symbol
des Verbrechers ist. Goethe hat dies, wenn es ihm
auch vielleicht nicht ganz klar geworden ist, doch

115

^skar Fried
 
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