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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 31 (September 1910)
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Kerr, Alfred: Kainz
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Przybyszewski, Stanisław: Das Geschlecht
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0249

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Umfang acht Seiten

Einzelbezug: 10 Pfennlg

WOCHENSCHRIFT FÜR KULTUR UND DIE KÜNSTE

Redaktion und Verlag: Berlin-Halensee, Katharinenstrasse 5
Fernsprecher Amt Wilmersdorf 3524 / Anzeigen-Annahme und
Geschäftsstelle: BerlinW35, Potsdamerstr. 111 / Amt VI 3444

Herausgeber und Schriftieiter:
HERWARTH WALDEN

Vierteljahresbezug 1,25 Mark J Halbjahresbezug 2,50 Mark /
Jahresbezug 5,00 Mark / bei freier Zustellung / Insertions-
preis fiir die fiinfgespaltene Nonpareillezeile 60 Pfennig

I JAHROANQ 1910 BERLIN /DONNERSTAG DEN 29. SEPTEMBER 1910/WIEN NUMMER 31

INHALT: ALFRED KERR: Kainz / STANISLAW
PRYBYSZEWSKI: Das Geschlecht / EDUARD PUKL :
Slawische Arbeiterin / ALFRED DÖBLIN: Astralia /
| OTTO WEININGER : Sucher und Priester / HEINRICH
PUDOR: Frühling in Finnland / TRUSTj: Die schönste
Frau / H. W.: Von der Operette und vom Tode / J. A.:
Die Wiederkäuer / PROGRESS: Die Romantischen /
Notizen / QUINTUS FIXLEIN: Oh! lächelte er diskret /
Programmschmuck Berliner Theater / Inhalt des
ersten Halbjahrs 1910

Kainz

Wer warst du, Seele, wundersame?

Wer warst du, die ins Finstre schied?

Ein Zaubervogel'? Eine Flamme?

Warst du ein Wein? Warst du ein Lied?

Wer ging durdh unsre Frühlingsfelder;

Und fern aus Tr.äumen, unsichtbar,
Hesperische Zitronenwälder
Umschatteten sein Lippenpaar?

Warum die Rast des noch nicht Müden?
Wer warst du? Keiner kam dir gfeich.

Du Glück und Glut aus deutschem Süden,
Dionysos aus Oesterreich.

Du hextest funkelhd aus den Saiten
Tief tausendfältiges Getön
Und Blitze, Peitschen, Seligkeiten
In goldner Wildnis — menschenschön ...

Sadit bettet man den Frühverscheuchten,

Im Dämmergläst des Kerzenscheins.

Wir grüßen dich. Du warst dn Leuchten.

Es kommt nicht wieder — Josef Kainz.

Alfred Kerr

Das Geschlecht

Von Stanlslaw Przybyszewski

„Am Anfang war daS Geschfecht. . . ■“

Mit diesen Worten habe ich mein erstes Buch
\ „Totenmesse“ eingeleitet (es sind sChon zwanzig
Jahre her), und diese Worte wiederhole ich jetzt,
„ wo die Sexualfrage mehr als je zuvor in den
Vordergrund gestellt wird, mit noch größerem Nach-
druck.

Und in der Tat ist das Geschlecht jene pla-
1 tonische ö'nopcpo; uXr;, jene formlöse Materie, die aus
dem Logos der Emanation des höchsten Seins ent-
, standen ist und die Weft erschaffen hat.

Was wäre der Mensch, wenn nicht seine Ge-
danken und GefühlC die heiße Macht desi Ge-
schlechts sättigte, wenn nicht ^pio; und valxo; das
unzertrennfiChe „plie et face“ einer und derselben

Einheit, unbekannte unfaßbare Kräfte einigten, $ie
trennten und sie aus geheimen dunklen Urgründen
in das bewußte Tagesficht herausholten!

Aus dem Kehlkopf des Menschen riß das Ge-
sehlecht die ersten, langgezogenen Klänge, zer-
gliederte sie nach dem Takt des schlagenden Her-
zens, formte sie in Rhythmus und Melbdie, bildete
sie zu dem Wiehern, Heufen und Kläffen des
SChmerzes, dem Knurren und Ffetschen des Hasses,
dem Murmefn und Flüstern der Liebe, dem er-
stickten himmefhochäufjauchzenden Schreien der
Freude, des Organismus und der Ekstase:

Das Geschfecht hat das Wort gehoren:

Und daS GeschfeCht hat sich mit übermächtiger
Kraft in dtie Muskelh des Menschenkörpers' ergossen;
es hat den Menschen die Keufe in die Hand ge-
geben, afs' es darauf ankam, seinen Nebenbuhler
zu vernichten im Kampf um das Weibcher», es hat
seine Kräfte ins UnendliChe gesteigert, als es galt,
dem WeibChen und seiner Brut das Leben zu sichern,
es fieß ihn die Urwälder urbar machen, den Schoß
der Erde auseinanderreißen undl den Lauf (der Ströme
in neue Betten tenken und die Meere unterjochen
und die Berge bezwingen; das' Geschfecht hat das
Gehirn waCherweckt, es 1 in unfaßbarer Quaf 'Jünd
Mühe zu einer unerhörten Arbeit gezwungen, und
zur Verschfagenheit, listigem Betrug, mit dem er
den Göttern das Feuer gestohfen, zur verwegenen
Kühnheit, tnit der er den Pelian äuf den OsSa
stüfpte und die Pforten des Himmelreichs erbrach.

Das Geschtecht gebar die T a t.

Und das Geschfecht drang in das Herz des
MensChen ein, hat es ganz ausgefüllt, in ihm das
Verfangen geweckt, daß ein jeder sö glücklich Sein
soie, wie er in dem heiligen Glücksaufschwung, es
hät in ihm den übermächtigen WunSch entffammt,
der ganzen Weft zum Freudentanze aufzuspielen,
damit ein jeder in glückseligem Spiel sich seiner
bewußt werde und in die große, heillge LebenS-
hymne einstimhie; an den Tisch der reichsten Ge-
läge hat es alle eingeladen — und so hat das Ge-
sChfecht das Mitleid und Zusammensein geschaffen,
den Vater-Mutter und Bruder-Schwester, es hat das
Menschengeschfecht geeinigt durch Blutbande und
Freundschaft, aber gteichzeitig wurde es zur Quelle
der RaChsucht und der Gier, des Mordes und des
Verbrechens, es trennte und zerschlüg in alle Winde
den Samen des Abef und des Seth und des Kain. ...

Und sb schuf das Geschlecht die Familie, die
Sippe, dasi Volk.

Und dann hat eS seine Augen weit aufgerissen,
e$ sah hinter sidi mit unsagbarer Sehnsucht und
schaute zurück auf seinen göttlichen Uranfang.

Millionen und aber Millionen Von Jahren starrte
es in das heillge Feuer, an dessen Glanz alle Welten
und alles Getier zehrte — vbn dem es lebte.

Das Geschfecht verlangte nach der Göttlichkeit!

Und es weitete mit inbrünstiger Sehnsucht die
Brust des MensChen, sein Herz durchtränkte es
mit dem süßen Gift der Schwäche und des Zu-
trauens, es stahf einen Strahl nach dem andern aus
dem Urfeuer, bis es in der Seefe des Menschen

eine Herdflämme entfachte, in der es sich aufzu-
lösen, Völlig aufzugehen und sein eigenes selb 1-
ständiges Sein zu vergessen begann:

In der Liebe!

Und es geschah ein übergroßes Wunder:

Amorphos Hyfe Vereinigte siCh mit dem Logos!

Der heilige Geist stieg auf das Geschlecht her-
nieder, und So erschuf das Geschfecht — die Liebe.

Und jetzt zerbrachen die Riegef, auf taten sich
die Tore der menschfichen Seele, den Sternen ent-
gegen, dem Himmef und der Sonne zu; aus un-
SiChtbaren Quellen schossen jäh hervor die Strahlen
der Gnade und unfaßbarsten Wunder; tausend un-
bekannte Gefühfe, Begriffe und ErkenntnisSe weite-
ten die mensChfiChe Seele bis zu der Größe des
göttlichen Seins; niegeahnten Welten entgegen
reCkten sich die Arme empor; vor grauenhaft ge-
heimnisVoWer. Mächten beugten sich die Kniee, und
im Staube wühlte der Mensch sein Angesicht Vbr
SChreck, Beben und Ehrfurcht. Verborgene Ahnun-
gen wurden zur Gewißheit, und die Gewißheit ver-
barg sich in dem tiefen Dämmerungsdunkef 'de-
Unbekannten und doch so unendfich Nahen.

Eingedenk seines göttfichen Ursprungs nistete
sjch das Geschfecht im Menschenherzen ein piit
der frohen NaChricht:

AÜ9 erstes begann es dem Menschen vbn Gott
zu sprechen!

Mit Liebe und dem Bewußtsein seiner GöttllCh-
keit wuChS sich aus die gewaftige Uebermacht des
Geschfechtes.

In die dunkelstcn Verstecke, in die geheimsteii
FäftChen der Seele ergoß sich ein heißer Strom,
erhellte mit sbnnigem Lichtglanz die dunkelsten Ab-
gründe, erhitzte die Felsen, daß sie in loderndem
Feuer erglühten, gestaltete die Welten um und ließ
sie in neuen Formen erstehen; in seln breites Bett
leitete esl alte Instinkte, Ahnungen, alle Lust und
jeden SChmerz, den Haß und die sefige Himmel-
fahrt des Menschen, den ganzen Lebensstrudef einer
maß- und sChrankenlbsen Seele und trug die schäu-
menden Wellen auf das gegenseitige Ufer und warf
sie zu den Füßen Gottes, auf daß er siCh an seinem
Abglänz erfreue.

Und sb wurde das Geschfecht zum Vertrauten
Gottesi und trug ihm frohe Kunde zu, wie sich der
Mensch ihm nähere durch die Kunst.

Das GesChfecht hät die Kunst gebbren.

Und sb ist das GesChfecht dasi androgyne
„Vater-Mutter“ dessen, was ist, was war, was sein
wird:

Die urgewaltige Quelle der MaCht, der ewigen
Kraft, der Begeisterung und des Rausches, des
heifigsten Himmelssturmes und des schwersten Sün-
denfalls, der höchsten Tugend und des höllischsten
VerbreChenS.

Es gibt keine Macht, die sich mit der seinigen
mesSen könnte, und afs solChe ist es die höchste
SChönheit, der einzige Weg, der uns mit dem Ab-
sbfuten vereinigt, weil es von ihm ausgegangen ist
und zu ihm zurückkehrt.

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