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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 33 (Oktober 1910)
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Soyka, Otto: Der Leser
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0265

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Umfang acht Seiten

Einzelbezug: 10 Pfennig

DERSTURM

WOCHENSCHRIFT. FÜR KULTUR UND DIE KÜNSTE

Redaktion und Verlag: Berlin-Halensee, Katharinenstrasse 5
Fernsprecher Amt Wilmersdorf 3524 / Anzeigen-Annahme und
Geschäftsstelle: BerlinW35, Potsdamerstr. 111 / AmtVI 3444

Herausgeber und Schriftleiter:
HERWARTH WALDEN

Vierteljahresbezug 1,25 Mark j Halbjahresbezug 2,50 Mark /
Jahresbezug 5,00 Mark / bei freier Zustellung / Insertions-
preis fiir die fünfgespaltene Nonpareillezeile 60 Pfennig

JAHROANO 1910

BERLIN/DONNERSTAO DEN 13. OKTOBER 1910/WIEN

NUMMER 33

INHALT: OTTO SOYKA: Der Leser / PETER
HILLE: Das Mysterium Jesu / THADDÄUS RITTNER:
Akazia / HANS MAYER: Bildungsphilister / CORVINUS:
Abschlachtung / J. A.: Die Miezerl Eschenbach im
Himmel / TRUST: Deutsches Theater iiber alles! /
OSKAR KOKOSCHKA: Menschenköpfe V: ALFRED
KERR

Der Leser

Von Otto Soyka

Charakteristisch für das moderne Leben ist die
Hochfl'ut der Literatur, die sich sofort in jede Bahn
ergieht, die dieses Leben gebrodhen hat. Dem
Automobil folgen augenblicklidh Automobildrama
und Automobiihumoreske. Kaum ein Markt der
Wel't wird so prompt bedient wie der literarische;
nirgends sonst sind die Produzenten von so eifer-
vofler Beflissenheit, jede Möglidhkeit der Nachfrage
zu erraten, und jedem Wunsdhe zuvorzukommen.
Durdh das Uebermaß von Literatur, das heute z:u
Gebote steht, haben sich eigentiimiiche Erschei-
nungen in der Psychbllogie des Lesers herausge-
bildet. Es entstand der Buchmensch, der sich und
seine Ansätze Von Persönlidhkeit der Literatur hin-
gab und zufrieden ist, sein Leben nadh vorge-
drucktem Text nachzufeben. Es entstand der
besitzergreifende Leser, der auf afles Literarisdhe,
Personen, Still und Inhalt, einfach Beschlag legt
und sie ak Nutzartikel in bezug auf seine Persön-
lidhkeit betrachtet und beurteilt. Literatur ist ein
Gegenstand, den er wie jeden anderen bezahlt;
Gedanken und Anschauungen sind Waren, die an
jeder Straßenecke feifgeboten werden. Der Autor,
für den er sidh entscheidet, ist ihm eine Art Mode-
stoff, mit dem er sidh nadh Gutdünken drapieren
wifl. Er wählt ihn so, daß er zu seiner Krawatte
paßt, und präzisiert damit den Gegensatz zu seinen
schwerbI'ütigeren Mitmensdhen. Sie tragen zeit-
febens Krawatten, die in Fortn und Farbe den
Gedanken ihrer Hauptfektüre entspredhen.

Das Anprobieren fremder Meinungen und Ge-
danken gesdhieht mit jener Sorgfalt, auf die eine
Hauptfrage der geistigen Toifette Ansprudh hat.
Nfetzsche kfeidet jugendlich und ist schon zu sehr
unter den Leuten, Sdhopenhauer hat Unbequem-
fldhkeiten. Aehnliche Erwägungen sind bestim-
mend. Die Weftansdhauung, die man wünscht, soll
der eigenen Lebensführung angepaßt und vor allem
dekorativ sein. In der sdhönen Literatur sprechen
audh soziale Stellung und politische Meinung des
^ uu S- C' n S ew' chtiges Wörtchen mit. Man müßte
sich hiiten, auf das blbße Gefallen an ihren Werken
liin, üorki oder gar Zol'a zum Lieblingsautor zu
nehmen. Daß man weiterhin für sein Gelid audh
wirkfidhen literarischen Wert, etwas Unerhörtes an
Geist und Gedankentiefe verlangen kann, ist selbst-
verständlich. Die Geistesblitze der größten Denker

sind gerade gut genug, um ! eine: Wodhe l'ang ein
kfeines Gesprädhsfeuerwerk bei Ball und Soiree zu
unterhalten. Idh kannte jemand, der einen unge-
heuren Verbraudh an Autoren hatte. Er war stets
aufs hödhste für einen Schriftstefler begeistert und
pries iihn sofange über alles, bis er einen Nadhfolger
an seine Stefle setzte. Dann existierte der erste
nicht mehr für ihn. So verehrte er sidh zweimaf
durdh die ganze Literatur des In- und Ausfandes
hin und zurüdk. Einmaf, als er von einem sehr
Modernen auf Kosten aller anderen sdhwärmte, er-
innerte idh ihn daran, daß er Jean Paull herrlidh und
erhaben gefunden habe. „Nun ja“, antwortete er,
„weiter ist der aber audh gar nichts.“

Daß Kinder mit den philbsophisdhen Gedanken
spiefen wie mit Puppen, daß; Aphiorismen der besten
Geister afs Gesprädhsaufputz für sehr junge Leute
zu dienen hahcn, daß Goethe und Shakcspcare a!'s
Teegesprädh zum Gebädk scrviert werden, das sind
Errungenschaften von sehr zweifellhaftem Wert. Es
sind Syrnptome einer naiven Respektlbsigkeit vor
dem Genie, die auch anderw,ärts an der Tages-
ordnung ist. Die Druckerpresse liat das Reich des
Geistes auch den Unberufensten zugängfich ge-
madht. Und mit wackerem Eifer schreiten Hinz
und Kunz an die Demokratisierung dieses Reidhes,
mödhten atn fiebsten Meter und Kilogramm, die
sie von ihrer täglichen Besdhäftigung her schätzen,
auch als Masse für Geistesprodukte einführen. Es
sieht sich an wie eine Revofution der Armen am
Geiste gegen die Geistesaristokratie.

Der Leser fuhlt sidh als Konsument und Auf-
traggeber und will bedient sein. Gegen den Autor
hat er zweierfei Stellung; entweder er lehnt ihn
afs nidht konVenierend ab, oder er kleidet ihn und
seine Ideen in die Livree des eigenen Hauses, indem
er ihn zu seinetn Dichter, Denker und Erzähfer
ernennt. Das sind die Follgen einer literarisdhen
Ueberproduktion, die mit ihren Erzeugnissen die
Tagesblätter füllt und jedem Geschmack, jeder
Partei nadh Wunsdh ihre Ware ins Haus fiefert.

Wie die Dinge heute stehen, bedarf das Pubfi-
kum des Sdhutzes gegen eine Talmiliteratur, die
sidh reisefertig auf jedes Geschehnis des' Le'bens
legt, die Phantasie belastet, den Menschen lebens-
fremü madht; aber zu schützen sind auch die
Hiterarisdhen Sdhätze gegen ein Publikum, das ge-
wöhnt wurde, in der Literatur einen Kramläden
zu sehen, in Üe'm der Kunde Befehlb erteilt.

ZweifelHos sind es Erscheiinungen im literari-
sdhen Betrfebe Vion heute, die an der Urteifsver-
wirrung Scliufd tragen. Außer dem 1 Uebereifer
fiterarisdher Handlangcr schädigen vielfach Buch-
kritiker und Bearbeiter die Literatur. Gerade die
Buchkritik fiegt häufig in den Händen von Dilet-
tanten. Mit Rezensionen beginnt der Literat die
Mitarbeit an der Zeitung. Sfe werden afs Stilproben
aufgefaßt, aus denen sidh die Befähigung zum
Sonntagsplauderer oder Lokalredakteur ergeben soll.
Afle Sch,äden, die aus Urteilslosigkeit und Unreifc
erwadhsen müssen, flließen in die Spalten der Bueh-
referate. Hfer ist das Dorado der Stifblüten, hier

stehen inehr apodiktisehe Urteile in zwanzig Zeilen
afe in ebensoviel'en Leitartikeln. Und dodh bedarf
es gerade hier der Urteifefähigkeit eines Mannes
vön Wissen und Können, um in einer Arbeit das
GewoHte zu erkennen, das Erreichte zu würdigen
und kritisch einzuordncn. Wer ti'ber andere ur-
teifen will, soll nidht erst nach sich selber suchen
müssen. Das ist eine Sefbstverständlichkeit. Und
dem jüngsten Gymnasiasten, der bei Pierson Ge-
didhte verfegt, tritt der Rezensent zu nah, der eben
im Begriff ist, dassefbe zu tun. Aber auch jener
Buchkritiker, Üer seiner Aufgabe gewadh'sen ist,
soflte nie des minder einsidhtigen Lesers vergessen.
Man kann Lichten'berg tadelln und den neusten
Salbnplauderer loben, und beides' mit Redht. Aber
der Leser muß erinnert werden, daß in beiden
Fällen ein anderer Maßstab im Gehraucih war, und
an dem Maße Lichtenbergs gemessen, der Salbn-
pläuderer über Lob und Tadel erhaben ist, weil er
einfadh verschwindet. Man bedauert oft, daß eine
ridhtige Darsteflung literarischer Größen jenen Ver-
merk vermissen liäßt; der am Rande der Landkarte
so instruktiv wirkt. Maßstab: Eins zu tausend.
Es wird kaum veranfwortungsloser und unreifer
über Literatur gesprochen, als übcr Literatur ge-
sdhrieben wird.

Zur Bearbeitung wertvofler Werke sollte ein
Befähigungsnadhweis erforderfich sein. Es sollte
nicht jeder ohne weiteres Hand anfegen dürfen.
Monumente ides Geistes hätten zumindest jenen
Schutz zu genießen, der solthen aus Marmor zuteil
wird. Eine Statue dürfte niemand ungestraft be-
sudelh, aber — um ein krasses Beispiel zu nennen —
dfe Werke Platos können in der gelesensten deut-
schen Ausgabe (UniVersafbibliotbek J'mit Anmer-
kungen eines Herausgebers ersdheinen, die auf den
Ton einer Gassenschenke abgestimmt sind. Oder
ein spekufanter Verlag veranstaltet Jugendausgaben
Von Kipfings Dsdhungelbuch, den Schriften Dickens,
bededkt sie mit seinen Reklämezetteln, und nie-
mand fragt, mit weldhem Recht liier etwas für
die „Jugend“ „bearbeitet“ wird, das von hoch-
begabtcn Menschen für die Jugend gesdh'rieben
wurde. Jedem Unberufenen ist in der Werkstatt
fremden Geistes die Mitarbeit gestattet, und ver-
geblich wünscht man Stachefzäune auch um
G e i s te s m o nu m ente.

Aus literarisdher Sphäre selbst müßte der An-
stoß zur Aenderung dieser Verh(ältnisse kommen.
Urteife in literarisdhen Dingen dürfen in der Oeffent-
fidhkeit nicht mehr mit Namen gezeichhet werden,
die hedeutungslbs sind. Eine Erziehung zum Leser
soW von der Kritik ausgehen; denn der Leser ist
es, der heute fehft. Er muß von dem Besdhauer
eineS Kunstwerkes fernen, Distanz! zu hälten. Er
darf sich nicht widerstandsfos zu eigen geben, und
darf nidht plump Besitz ergreifen wollen, darf
Literatur nddht als Gebieterin und nicht als Stuben-
magd behandelh. Kritiker und Bearbeiter sind heute
nur zu oft sdhufd daran, daß dies geschieht. Der
Kritiker vor allern müß, sicli bewußt werden, daß.
seine Aufgabe nidht im Loben oder Verhöhnen be-

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