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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

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Nr. 81 (Oktober 1911)
DOI Artikel:
Walden, Herwarth: Aus der Zeit für die Zeiten
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0199

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WOCHENSCHRIFT FÜR KULTUR UND DIE KÜNSTE

JAHRGANG 1911 BERLIN OKTOBER 1911 NUMMER 81

Inhalt: TRUST: Aus der Zeit für die Zeiten: Stuttgart endgültig entdeckt / Ist der Bohemien wirklich lustig / Zur gefl* Auswahl« / Was Bismarck
nicht beabsichtigte / Der Oberlehrer und die jungen Geister / Der Dramaturg / Edison / Die Zeugen / PAUL SCHEERBART: Die Schlachtpomade /
ELSE LASKER-SCHÜLER: Briefe nach Norwegen / ALFRED DÖBLIN: Gertrude Barrison / WALTER HEYMANN: Glasmalerei / VIKTOR v. DIRSZTAY:
Unser Photo / J. A.: Von Sedan bis Budapest / E. L. KIRCHNER: Siesta / Holzschnitt

Aus der Zeit für die
Zeiten

Stuttgart endgültig entdeckt

Das neue Blühen in deutschen Landen will
nocli immer nicht enden. Kurt Aram hat den
Voget, Uer iri den Zweigea smgt. Mii iii . be-
hafiet ist es ihm gelungen, Stuttgart endgültig
zu entdecken. Nach einigen historischen Aus-
führungen und statistischen Anmerkungen weckt
er das Interesse des Lesers für die geologischen
Verhältnisse. Man erfährt zu seiner Beruhigung,

: dass Stuttgart über eine „würdige“ Wasserversor-
gung verfügt, hingegen leider die Fäkalien durch
das sogenannte pneumatische Abfuhrsystem be-
seitigt werden. Es ist aber Hofinung vorhanden,
dass auch in Stuttgart das längst gebräuchliche
Schwemmsystem durchgeführt werden wird. Al-
lerdings ist „die Entwicklung der Stadt der
Entwicklung ihrer Kanalisation längst über den
Kopf gewachsen.“ Trotz erheblicher Opfer.
„Nicht wenige tüchtige Männer in der Stadtver-
waltung haben ihre besten Kräfte aufgierieben,
utn in Dingen wie Kanalisation und dergleichen
schneller voranzukommen.“ Die tüchtigen Män-
ner haben offenbar die Dimensionen verwechselt.
Aber schön denke ich es mir auch nicht gerade,
wenn einem die Kanalisation über den Kopt
wächst. Selbst Kurt Aram wird hierüber philo-
sophisch: „Der Apparat selbst ist stärker als
einzelne Menschen. Er kommt der demokrati-
schen Auffassung und der schwäbischen Debat-
tierlust entgegen.“ Was könnte man den Stutt-
gartern und ihrer schönen Stadt wünschen? „Dass
es nicht weitere vierzig Jahre dauert, his die
Schwemmkanalisation glücklich durchgeführt ist.
Nach dieser ziemlich schmierigen Geschichte stellt
Herr Aram mit Begeisterung fest, was alles in
Stuttgart „blüht“. Rings um die Altstadt blüht
die Industrie, Kleinmaschinenfabriken, Webereien,
Korsettfabriken, Motorwerke. Auch heute noch
blühen an den Hügeln die Reben. Femer blü-
hen die vortrefflichen Mädchenschulen, die
tüchtigen Baumeister, die Bildung, die Kunst
und die Literatur. „Kein Mensch wundert

sich, dass hier so manche Dichter das Licht
der Welt erblickten.“ Sogar Jean Paul liess
sich zu einem Ausspruch hinreissen: „Stuttgart
wurde mir je länger je lieber.“ Das klingt bei-
nah so, als ob Jean Paul Aramischen Geblütes
war. Selbst Goethe ist in Stuttgart nicht wieder-
zuerkennen. An einen Stuttgarter Bildhauer
schrieb er nach Aram: ,.Nun habe ich Tagever-
lebt, wie ich sie in Rom lebte.“ Der Geist des
Lokal-Anzeigers scheint rückwirkende Kraft zu
haben. Besonders rührend sorgt Stuttgart für seine
Bürger: „In den Volksschulen sind für alle Schüler
Lehrmittel frei. Die Stadt kommt dafür auf und
glaubt damit ihren Bürgern eine besonders wert-
volle Gabe i n d i e W i e g e ihrer Kinder zu
legen.“ Die Stadtverwaltung sollte noch ein
übriges tun und den Säuglingen ausser den Lehr-
mitteln als geistiges Nähmiittel, auf kaiserllch
Japan-Papier gedruckt und in Leder gebunden
den Singsang von Kurt Aram über das Blühen
Sfuttgarts in die Wiege legen. Die Säuglinge
wissen, wie man mit solchen Dingen umgeht.
Abei' ich wette: Stuttgart bekommt doch noch
seine Schwemmkanaiisation.

Ist der Bohemien wirklich lustig?

Kein geringerer als unser Otto Emst be-
schäftigt sich mit dieser „Frage“. Zu ihrer Lö-
sung hat er eigenhändig ein Drama verfasst,
nein, sogar ein „Tragikomödie aus der Boheme.“
Mit dem durchaus poetischen Titel: Die Liebe
höret nimmer auf. Otto Ernst will mit seiner
Tragikomödie nichts anderes beweisen, als dass
die Worte, der lustige Bohemien ein Cli-
chee sind. Otto Ernst behauptet kühn, dass die
Clichees „der edle Räuber, der grossmütige Lö-
we, die hochherzige Kameliendame viel w a h -
r e r und glaubhafter sind.“ Aus ist es
mit dem lustigen Bohemien. Merkwürdig bleibt,
dass dem Dichter Otto Ernst (auch ein unglaub-
haftes Clichee) aus der grossen deutschen Fa-
brik gerade der lustige Bohemien auf das Ge-
hirn gefallen ist. Ihm will er durchaus die Lu-
stigkeit nehmen. Und wenn er eine bitterbös ge-
meinte Tragikomödie darüber schreiben müsste.
Die Handlung wird in Zeitungsberichten dem

Dichter zum Trotz in feuerfesten Clichees illu-
striert: Ein Mädchen aus guter Familie (1) ver-
liebt sich rettungslos in einen mit grossen Vor-
zügen des Leibes und der Seele (2) nur nicht mit
Willenskraft und Beständigkeit ausgestatteten (3-)
Künstler und Bohemien (4), den feucht-fröhli-
chen (5) Bruno (6) Sie glaubt wie er an alle
schönen Worte (7) der Zigeunerphilosophie (8)
und muss den bittern Kelch (9) ihres lrrtums
und seiner Folgen bis zum tiefsten Grunde lee-
ren (10). Und das ohne Murren (11), da sie
ihr Schicksal mit sehenden Augen (12) gewählt
hat (13). Ihre Liebe aber, die sie elend ge-
macht hat(14) und die doch nicht aufhören kann
(15, die Liebe höret nimmer auf, vaschteste)
reisst sie mit AUgewalt wieder empor (16) und
mit ihr den Geliebten, der zu ehrlich gegen die
Welt und gegen sich selbst ist (17 18), um die
feucht-fröhliche (19) Lüge seines Lebens (20)
nicht wenigstens zu erkennen und zu bekennen.
(21) Ein gut assortiertes Lager. Otto Ernstsieht
vor Clichees ein Clichee. Das Mädchen aus gu-
ter Familie hat es sich so schön gedacht mit der
Zigeunerphilosophie. Immerhin bleibt es für sie
erfreulich. däss sie nur den bittern Kelch s e i-
n e r Folgen leeren muss. Der nicht mit Bestän-
digkeit ausgestattete Künstler und Bohemien hat
jedenfalls gelernt, dass die feucht-fröhliche Lüge
seines Lebene die Folgen einer Tragikomödie
von Otto Ernst haben kann. Dass er sich nicht
mehr der lustige Bohemien nennen darf, sich
aber dafür an den grossen Vorzügen seines Lei-
bes und seiner Seele erfreuen kann, und dass er
der Weisheit letzten Schluss gefunden hat: Die
Liebe höret nimmer auf.

Zur gefl» Auswahl®

Otto Ernst hat ein Clichee entdeckt. Um
ihm und allen gleichwertigen deutschen Dichtem
Material für zahllose weitere Dramen zukommen
zu lassen, eröffne ich hier ein Detailgeschäft in
„erstklassigen“ Clichees zur gefl# Auswahl. Da
die Eigentümer meistens. verstorben sind, trägt
das Geschäft den Charakter eines Gratis-Ausver-
kaufes. Der Erfrischungsraum befindet sich au-
sserhalb dieses Raumes. Das Schaufenster wird
 
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