Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912
Zitieren dieser Seite
Bitte zitieren Sie diese Seite, indem Sie folgende Adresse (URL)/folgende DOI benutzen:
https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0213
DOI Heft:
Nr. 82 (Oktober 1911)
DOI Artikel:Walden, Herwarth: Aus Berlin
DOI Seite / Zitierlink:https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0213
Artur Segal / Holzschnitt
nicht deswegen abzulehnen, weil sie von F r a u e n
sind. Es sind viele unter ihnen, die Aufmerksam-
keit verdienen, zum Beispiel: Lene Kainer, Emmi
Wollner, und vor allem die schon bekanntere Anna
Costenoble (Sitzender Mann). Auch gute Plastiken
von Frauen sind zu sehen, sie lehnen sich zwar an
Minne und Maillol an, haben aber trotzdem schon
eigenes Leben. Vorzüglich ist die Porträtstudie
von Margarete Hoenerbach, sehr interessant sind
die Bildhauerinnen Eva Lau, Margarete Scheel und
Maria Schneider. — Ich halte es für iiberflüssig,
Werke der bildenden Kunst „poetisch“ zu um-
schreiben. Das bedeutet fiir den Leser nichts.
Man muß s e h e n. Der Kritiker kann nichts weiter
tun, als dem Publikum zur Nachpriifung die Masse
zu nennen, nach denen er wertet. Durch Nennung
von Namen gibt er Beispiele. Man soll nicht
„sich einstellen“, sondern die Augen öffnen. Man
soll s e h e n.
Die Orestie im Zirkus
Max Reinhardt ließ von den Mitgliedern des
Deutschen Theaters im Zirkus Schumann die Ore-
stie des Aeschylos spielen. Die Zirkusvorstellun-
gen der griechischen Klassiker werden systematisch
fortgesetzt. Reinhardt plant bekanntlich das Thea-
ter der Fünftausend. Es soll von ihm „Weihe“ aus-
gehen. Reinhardt glaubt offenbar, daß Weihe schon
dadurch entsteht, wenn sich mindestens fünftausend
Menschen an einem Orte versammeln. Bisher nahm
man stets das Qegenteil an, und die Vorstellung im
Zirkus Schumann gibt der alten Ansicht Recht. Das
Publikum war durchaus nicht weihevoll. Im Qe-
genteil. Wenn jemand aus Versehen im Dunkeln
vor Beginn sich in der Zirkusarena, die jetzt stolz
Orchestra heißt, verirrte, wurdje der Kreuzgang
mit Iubeln und Klatschen gefeiert. Als sich der An-
fang der Vorstellung verzögerte, lief der Witz
durch den Zirkus, daß die Konzession von der Po-
lizei noch nicht eingelaufen sei, sie aber jeden
Augenblick kommen müsse. Weihevoll war es also
nicht. Das ist aber auch nicht nötig. Ich halte die
griechischen Klassiker überhaupt nicht fiir geeignet,
ein Publikum zu unterhalten, in welchem Sinn man
das Wort nehmen mag. Kunst hat nichts mit
Bildung zu tun. Deshalb muß heute Aeschylos von
KünstJern und vom Volke abgelehnt werden. Seine
Tragödien in deutscher Uebersetzung interessieren
nur die sogenannten Qebildeten. Das sind die Men-
schen, die sich etwa bei Bildern darüber freuen,
welche guten historischen Kenntnisse sie besitzen.
Sie wissen etwa, wann die Kaiserkrönung Karl
des Fünften stattgefunden hat, wer sich auf dem
Reichstag zu Worrns befand, wer beim ersten Siin-
denfall ums Leben gekommen ist, weiche Passagiere
die Arche Noah barg. Dieselben Leute sind mit
dem Stainmbaum des Herrn Atreus sehr verwach-
sen, mit dem Fatum leben sie auf vertrautem Fuße
und in Griechenland finden sie sich besser zurecht,
als in Berlin. Was ist uns Agamemnon? Was
Kiytemnästra und ihre Familie? Der Muttermord
geht uns ebenso viel an, wie irgend ein Mord in
der Mulackstraße. Mit seiner Hekubafrage hat
Shakespeare schon vor einigen Jahrhunderten
eigentlich die griechischen Klassiker erledigt. Es
ist ja sehr traurig, daß dem Orest so viele böse
Dinge vom Schicksai auferlegt sind. Aber eine Tra-
goedie im europäischen Sinne wird nie entstehen
können, wenn der Held erträgt, was die Schickung
bringt. Die Fabel, die ja schon für den ziemlich
alten Aeschylos sehr alt war, gibt uns nichts. Eben-
sowenig ihre Verwertung durch den „Vater der
griechischen Tragödie“. Sein Schöpferisches war
seine Sprache, die wir nicht hören. Seine Tra-
gödien waren Kunstwerke der Sprache, keine Dra-
men, wie wir sie fordern. Es g i b t keine Größe
des Stoffes. Mord und Todschlag stimmen
nicht tragisch, sind Privatangelegenheiten der Be-
troffenen. Kunst erfordert persönliche Qestaltung
des persönlichen Erlebnisses. Wenn wir den grie-
chischen Sorgen in goethischer Form nachfühlen,
tun wir reichlich unsere Pflicht. Wir sind Euro-
päer und nicht Qriechen. Und Qoethe, auf den sich
alles berufen, hat zu allererst gefordert, daß jeder
auf s e i n e Art ein Qrieche sei. Uns muß Ibsen
und selbst Hauptmann mehr bedeuten als Aeschy-
los. Auch Reinhardt wird historische Toten nicht
wieder zum Leben erwecken. Er gab sich große
Mühe. Das Erfreuliche seincr Regie bildet cfes
Streben nach Einfachheit. Er arbeitete bisher mit
„Einfällen“. Alles, was ihm einfiel, und wenn es
noch so ausgefallen war, wurde gebaut. Alle Stile
klebte er an sein Qebäude. Deshalb nannten ihn
die Kritiker „farbig“. Das Theater aber ist eine
Kunst des Plastischen, des Körperlichen, das Far-
bige darf nur soweit verwertet werden, wie es
nicht stört. Dieses Prinzip hat Reinhardt bei seiner
Inczenierung der Orestie befolgt. Nur hat er sich
nicht überlegt, oder es nicht vermocht, eine Einheit
in das zu bringen, was nach seiner Ansicht der
Stil der griechischen Trcgödic ist. Sein stilisiertes
Sprechenlassen besteht in Briillen. Helden brül-
len immer, auch wenn sie voin zitternden Laub
reden, was sie tibrigens lieber nicht tun sollten.
Das Brüllen dürfte auch Reinhardt schon deswegen
nicht gestatten, weil er nicht Epigone sein will,
aber so den Stil des Berliner Königlichen Schau-
spielhauses kopiert. Seine Leute k ö n n e n auch
gar nicht so gut brüllen. Reinhardt gefällt es of-
fenbar, aber der Kehlkopf seiner Mitglieder läßt
es sich nicht gefallen. In solchen Momenten besin-
nen sich die besseren Schauspieler auf ihre frühere
bessere Art Theater zu spielen. wie es i h n e n
655
nicht deswegen abzulehnen, weil sie von F r a u e n
sind. Es sind viele unter ihnen, die Aufmerksam-
keit verdienen, zum Beispiel: Lene Kainer, Emmi
Wollner, und vor allem die schon bekanntere Anna
Costenoble (Sitzender Mann). Auch gute Plastiken
von Frauen sind zu sehen, sie lehnen sich zwar an
Minne und Maillol an, haben aber trotzdem schon
eigenes Leben. Vorzüglich ist die Porträtstudie
von Margarete Hoenerbach, sehr interessant sind
die Bildhauerinnen Eva Lau, Margarete Scheel und
Maria Schneider. — Ich halte es für iiberflüssig,
Werke der bildenden Kunst „poetisch“ zu um-
schreiben. Das bedeutet fiir den Leser nichts.
Man muß s e h e n. Der Kritiker kann nichts weiter
tun, als dem Publikum zur Nachpriifung die Masse
zu nennen, nach denen er wertet. Durch Nennung
von Namen gibt er Beispiele. Man soll nicht
„sich einstellen“, sondern die Augen öffnen. Man
soll s e h e n.
Die Orestie im Zirkus
Max Reinhardt ließ von den Mitgliedern des
Deutschen Theaters im Zirkus Schumann die Ore-
stie des Aeschylos spielen. Die Zirkusvorstellun-
gen der griechischen Klassiker werden systematisch
fortgesetzt. Reinhardt plant bekanntlich das Thea-
ter der Fünftausend. Es soll von ihm „Weihe“ aus-
gehen. Reinhardt glaubt offenbar, daß Weihe schon
dadurch entsteht, wenn sich mindestens fünftausend
Menschen an einem Orte versammeln. Bisher nahm
man stets das Qegenteil an, und die Vorstellung im
Zirkus Schumann gibt der alten Ansicht Recht. Das
Publikum war durchaus nicht weihevoll. Im Qe-
genteil. Wenn jemand aus Versehen im Dunkeln
vor Beginn sich in der Zirkusarena, die jetzt stolz
Orchestra heißt, verirrte, wurdje der Kreuzgang
mit Iubeln und Klatschen gefeiert. Als sich der An-
fang der Vorstellung verzögerte, lief der Witz
durch den Zirkus, daß die Konzession von der Po-
lizei noch nicht eingelaufen sei, sie aber jeden
Augenblick kommen müsse. Weihevoll war es also
nicht. Das ist aber auch nicht nötig. Ich halte die
griechischen Klassiker überhaupt nicht fiir geeignet,
ein Publikum zu unterhalten, in welchem Sinn man
das Wort nehmen mag. Kunst hat nichts mit
Bildung zu tun. Deshalb muß heute Aeschylos von
KünstJern und vom Volke abgelehnt werden. Seine
Tragödien in deutscher Uebersetzung interessieren
nur die sogenannten Qebildeten. Das sind die Men-
schen, die sich etwa bei Bildern darüber freuen,
welche guten historischen Kenntnisse sie besitzen.
Sie wissen etwa, wann die Kaiserkrönung Karl
des Fünften stattgefunden hat, wer sich auf dem
Reichstag zu Worrns befand, wer beim ersten Siin-
denfall ums Leben gekommen ist, weiche Passagiere
die Arche Noah barg. Dieselben Leute sind mit
dem Stainmbaum des Herrn Atreus sehr verwach-
sen, mit dem Fatum leben sie auf vertrautem Fuße
und in Griechenland finden sie sich besser zurecht,
als in Berlin. Was ist uns Agamemnon? Was
Kiytemnästra und ihre Familie? Der Muttermord
geht uns ebenso viel an, wie irgend ein Mord in
der Mulackstraße. Mit seiner Hekubafrage hat
Shakespeare schon vor einigen Jahrhunderten
eigentlich die griechischen Klassiker erledigt. Es
ist ja sehr traurig, daß dem Orest so viele böse
Dinge vom Schicksai auferlegt sind. Aber eine Tra-
goedie im europäischen Sinne wird nie entstehen
können, wenn der Held erträgt, was die Schickung
bringt. Die Fabel, die ja schon für den ziemlich
alten Aeschylos sehr alt war, gibt uns nichts. Eben-
sowenig ihre Verwertung durch den „Vater der
griechischen Tragödie“. Sein Schöpferisches war
seine Sprache, die wir nicht hören. Seine Tra-
gödien waren Kunstwerke der Sprache, keine Dra-
men, wie wir sie fordern. Es g i b t keine Größe
des Stoffes. Mord und Todschlag stimmen
nicht tragisch, sind Privatangelegenheiten der Be-
troffenen. Kunst erfordert persönliche Qestaltung
des persönlichen Erlebnisses. Wenn wir den grie-
chischen Sorgen in goethischer Form nachfühlen,
tun wir reichlich unsere Pflicht. Wir sind Euro-
päer und nicht Qriechen. Und Qoethe, auf den sich
alles berufen, hat zu allererst gefordert, daß jeder
auf s e i n e Art ein Qrieche sei. Uns muß Ibsen
und selbst Hauptmann mehr bedeuten als Aeschy-
los. Auch Reinhardt wird historische Toten nicht
wieder zum Leben erwecken. Er gab sich große
Mühe. Das Erfreuliche seincr Regie bildet cfes
Streben nach Einfachheit. Er arbeitete bisher mit
„Einfällen“. Alles, was ihm einfiel, und wenn es
noch so ausgefallen war, wurde gebaut. Alle Stile
klebte er an sein Qebäude. Deshalb nannten ihn
die Kritiker „farbig“. Das Theater aber ist eine
Kunst des Plastischen, des Körperlichen, das Far-
bige darf nur soweit verwertet werden, wie es
nicht stört. Dieses Prinzip hat Reinhardt bei seiner
Inczenierung der Orestie befolgt. Nur hat er sich
nicht überlegt, oder es nicht vermocht, eine Einheit
in das zu bringen, was nach seiner Ansicht der
Stil der griechischen Trcgödic ist. Sein stilisiertes
Sprechenlassen besteht in Briillen. Helden brül-
len immer, auch wenn sie voin zitternden Laub
reden, was sie tibrigens lieber nicht tun sollten.
Das Brüllen dürfte auch Reinhardt schon deswegen
nicht gestatten, weil er nicht Epigone sein will,
aber so den Stil des Berliner Königlichen Schau-
spielhauses kopiert. Seine Leute k ö n n e n auch
gar nicht so gut brüllen. Reinhardt gefällt es of-
fenbar, aber der Kehlkopf seiner Mitglieder läßt
es sich nicht gefallen. In solchen Momenten besin-
nen sich die besseren Schauspieler auf ihre frühere
bessere Art Theater zu spielen. wie es i h n e n
655