Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Hinweis: Ihre bisherige Sitzung ist abgelaufen. Sie arbeiten in einer neuen Sitzung weiter.
Metadaten

Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 4.1913-1914

DOI Heft:
Nummer 154/155 (April 1913)
DOI Artikel:
Schwarz, Hugo Engelbert: Phantasie des totgeborenen Knaben Mukuro
DOI Artikel:
Leonhard, Rudolf: Angelische Strophen
DOI Artikel:
Kalckreuth: Für Kandinsky: Protest
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.27574#0007

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
einen Schlächterjaß an. Einen blutigen Schlächter-
jaß mit ordinären Knöpfen. Den schleuderte er auf
den gelbseidenen Fauteuil, auf dem Sikiri, die
kleine Katze, lag. Und er verscheuchte Sikiri, in-
dem er seine Mütze nach ihr warf. Der Fauteuil
hat mir einmal erzählt, daß ihm übel würde, wenn
der Mensch seinen Rock über ihn hing. Ich glaube
aber, der Fauteuil war einfach stolz. Er stammte
aus einer anderen Kaste und tat sich darauf was
zu Oute. Dann war er alt und grämlich. Er hatte
sich nie ausleben können. Deshalb haßte er den
jungen Schlächter. Aber der Fauteuil kannte auch
vergnügte Stunden. Die schönste war die, wenn
meine süße, liebe Mutter Wischihla sich auf ihn
setzte, nackt und herrlich, wie eine Göttin. Das
gefiel dem alten Kerl. Da umfing er sie mit seinen
weichen Armen und wollte sie nicht mehr los-
lassen.

Der Schlächter aber hieß Muku. Wenn er seine
Kleider von sich geworfen hatte, war er nicht
mehr blutig. Und auch sein Schnapsgeruch ver-
schwand. Denn aus seinem Körper stieg das in
den Raum, was Mann heißt, und was meine Mut-
ter Wischihla wahnsinnig machte. Ein Körper wie
aus Erz. Und Wischihla, meine Mutter, war eins
mit Muku. Wie zwei Kinder liebten sie sich und
ich hatte nie Angst vor ihm. Ich fühlte seine Sehn-
sucht brennen und sah, wie seine Zärtlichkeit die
Flammen milderte. Aber ich hörte auch seinen
Athem schnauben und das Jauchzen Wischihlas,
das sich darein mischte. Ich bebte vor Wonne,
wenn Muku kam und sicher bin ich Mukus Sohn
und deshalb heiße ich auch Mukuro .... Oh wie
töricht ist der Doktor, daß er mich in Spiritus kon-
serviert, mich Mukuro, dessen Vater Muku eine
Flasche Kognac in zehn Minuten leerte! . . .

Rocky-Flocc, der besuchte meine Mutter nur,
wenn das graue Elend über ihn kam. Der hatte
sechzigtausend Pfund in Sekt angelegt. Wischihla
liebte ihn aber, weil er Gedichte machen konnte,
wie ein Wahnsinniger. Gedichte, vor denen Pfaffen
und schlichte Bürgermädchen sich die Ohren zu-
halten und davonlaufen, immer weiter und weiter,
bis sie endlich in einem Bordell versinken und den
Teufel anbeten, den großen Teufel, der die Welt
unterjocht .... Wenn Rocky-Flocc kam, setzte
er 'sich in den gelbseidenen Fauteuil und sprach
kein Wort. Er streichelte Sikiri, die kleine Katze,
aber er sagte nichts. Und meine Mutter Wischihla
sah ihn bange an. Lange, lange .... viele Minu-
ten. Und dann bat sie ihn, er solle ihr ein Gedicht
vorsagen, eines von denen, die das Herz in Brand
steckten .... Aber Rocky-Flocc schüttelte den
Kopf und wollte nicht .... Er wollte lieber mit
Sikiri spielen . . . Aber meine Mutter, Wischihla,
bettelte und flehte. Und wenn er dann nicht wollte,
drohte sie und wurde ganz wild, bis Rocky-Flocc
sich herbeiließ .... Dann sang er ein Gedicht ...
er konnte es nicht sprechen, es war zu schön für
die gewöhnliche Stimme. Und er wurde ganz toll
dabei und Wischihla zitterte vor Grauen und Sehn-
sucht. Aber ich hatte Angst vor ihm. Er umarmte
Wischihla und sang dabei. Sie bohrte ihm ihre
spitzen, feinen Nägel in den Nacken, daß dickes,
dunkles Blut über das Bettlinnen herabfloß. Rocky-
Flocc aber sang mit toller Stimme bis beide in Ek-
tase sich überschlugen und wie tot dalagen.
Rocky-Flocc war eine Nummer !!....

Ich glaube ein Narr oder ein wirklicher Mensch.
Denn die andern waren Tiere mit steifen, weißen
Hemdbrüsten und schwarzen oder weißen
Maschen unter den hohen Stehkragen. Stets trugen
sie Masken, um ihre Geilheit zu verdecken. Aber
die war nicht zu verdecken, denn sie blühte wie
eine riesige Chrysantheme auf ihren Lippen und
prangte in ihren Augen, wie die Schminke der
Dirnen, die über die Boulevards stolzieren und ru-

fen: Pst, pst, komm’ Kleiner, ich weiß wo Gott
wohnt .... Vor diesen andern Männern hatte ich
keine Angst. Sie gaben sich nur das Ansehen von
Vampyren, sie waren aber nur Philister, die sich
einbildeten, daß der Phallus alles ist. Aber er ist
nur ein Drittel vom Ganzen, wenn die Weiber
träumen er sei eine Knackwurst und nur ein Zehn-
tel, wenn er ein gewöhnlicher Wald- und Wiesen-
phallus ist. Alles andere muß Mann und Weib
aus eigenem beisteuern, als da ist Materia quasi-
modo genita, Geist und Phantasie, das Bewußt-
sein, daß die Gläubiger nicht warten wollen . . . .
Alles Tierische, alles Göttliche, alles Grenzen-
lose! _

Und darum, lieber Doktor, bist Du thöricht,
denn Du bist ein Philister und glaubst nur an den
Phallus — der anderen, der für Dich Geschäfte
macht. Du selbst bist längst Eunuch und Mitglied
einer frommen Bruderschaft.

Wie traurig, daß ich nicht mehr bei meiner
süßen, lieben Mutter, Wjschihla bin. Wie blond
war sie . . . wie sonnig! . . . Jetzt wird Sikiri bei
ihr liegen und ihre schmale Hand mit der rauhen
Spitze ihrer Zunge lecken. Und Wischihla wird
wieinen um ihren kleinen Mukuro, der allzufrüh
von ihr hat gehen müssen.

Warte nur, Du Philister, Mach kein so ernstes
Gesicht auf die schöne junge Frau, die voll Angst
auf Deinem Untersuchungstisch liegt. Du verekelst
ihr die schönsten Stunden ihrer dummen Jugend.
Zeige ihr, daß Du Dich freust, wenn sie geliebt
wird. Warne sie, um Gotteswillen, vor gar nichts..
Schenke ihr nur einen Funken von der Erkenntnis,
daß das Leben auch schön ist ... . Aber preß
ihr keine Tränen aus den sanften, blauen Au-
gen .... Du bist ein Heuchler mit Deinem stren-
gen Gesicht.... Dein Krämersinn aber freut sich
über die hundert Pfund, die Dir die Geilheit dieser
süßen kleinen Frau einbringt . . . Warte nur! . . .
Wenn dieses Weib vom Tisch heruntersteigt und
die Dame das Zimmer verläßt, dann ist Deine Or-
dinationsstunde zu Ende. Du gehst in den Klub
und spielst Bridge. Ich aber springe aus dem Spiri-
tus auf Deinen Schreibtisch und schreibe, warum
ich hier bin . . . Dann schreibe ich die Geschichte
des kleinen Mukuro . . .

Angelisehe Strophen

Von Rudolf Leonhard
Angelus

Du gingst umher, und um Dich war ein Rauschen,
Ein Rauschen war um Dich wie tiefes Meer;

Du, ein Ertrinkender, gingst drin umher
Und warst ganz stumm und neigtest Dich

zu lauschen.

Dann wuchs es auf, und wurde klar wie Glas
Und nackt wie Haut und hell wie Wintersterne,
Und war ein Leuchten in die tiefe Ferne
Vor Deinen Augen — und Du selbst warst das.

Du warst das Rauschen und der warme Glanz,
Sternbuch und Weltenbild und Gottessiegel
Und Windesatem, der um Welten strich.

Du warst in Gott und Du umfingst ihn ganz,

Geist, Gott leibeigen als sein tiefer Spiegel,

Geist — oder spiegelte er Dich —?

Das Wort

Fühlst im begrenzten Wort Du schwere Fülle

ringen?

Es schwillt von den gesagten und ungesagten

— Dingen.

Der Leser

Du liest. Dein Kopf wird schwer. Es strömt

aus offner Pforte.

Du liest. Und fühlst verwirrt: es atmen alle

Worte.

Vom Buch aufblickend

Du läßt die Bücher ruhn; und fühlst Dich eng

umgeben.

Umschattet und umdroht, und weißt: die Toten

leben.

Maculatae

Es war der reine Geist, der Deinen Leib verführte;
Der Geist, der Deinen Leib von gleichem Geiste

spürte.

Das Unerforschliche

Wenn blind hintaumelnd ich die Kuppen Deiner

Brüste,

Die hochgebognen Knie, den warmen Leib Dir

küßte.

Hast Du Dich mir enthüllt, o Seele meines Weibes;
Doch tastend faßt ich nie das Rätsel Deines

Leibes.

Enthüllung

Der Bau der Welt vergraut. Dein Leib liegt

aufgebaut.

Ich rühre Deine Haut. Ich hab die Welt erschaut.

Der tiefe Schmerz

Einst warst Du Fluß und Traum, Allschein und

Vielgestalt;

Nun bist Du eng umgrenzt und fest zu Dir geballt.

Aus dem soeben im Verlage von A. R. Meyer, Berlin-
Wilmersdorf, erscheinenden lyrischen Flugblattc „Angelisehe
Strophen“.

Für Kandinsky

Protest

Siehe Nummer 150/151 und 152/153

Graf von Kalckreuth

An die Redaktion des „Sturm“.

Auf Ihre Bitte komme ich erst jetzt zurück, da
ich bisher sehr beschäftigt war. Gestatten Sie
mir, daß ich Ihnen diese Bitte abschlage, denn ich
fühle mich weder berechtigt noch verpflichtet,
noch befähigt, ein Urteil über eine so neue Er-
scheinung wie Kandinsky abzugeben. Ich bin
selbstverständlich der Ansicht, daß man diesen
neue Erscheinungen mit dem Wunsche des Ver-
stehens und Begreifens gegenübertreten muß.
Schon an und für sich bin ich kein Freund von
apodiktischen Urteilen über Kunst, weil es sich
ja immer und immer wieder zeigt, wie unrichtig
die Urteile einer vergangenen oder gegenwärtigen
Periode gegenüber der gegenwärtigen oder zu-
künftigen gewesen sind. Andererseits können die
Jungen (Zukünftigen) nicht verlangen, daß von
seiten der älteren Generation sofort ein volles Ver-
ständnis für sie zu Tage tritt. Ein solches Ver-
ständnis braucht Zeit und eine ehrliche, gute Ab-
sicht dazu.

Mit dem Ausdruck meiner vorzüglichsten Hoch-
achtung bin ich

Ihr sehr ergebener

Graf von Kalckreuth

s
 
Annotationen