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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 4.1913-1914

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Nummer 166/167 (Juni 1913)
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Lotz, Ernst Wilhelm: Allein
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Lotz, Ernst Wilhelm: Katechismus
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Meyer, Alfred Richard: Kloster Neustift bei Brixen
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Scher, Peter: Das Holzbein
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https://doi.org/10.11588/diglit.27574#0054

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mir eine seiner Zigaretten an. Ich greife hin, hole
mir eine Zigarette, erhebe mich halb von meinem
Stuhle und biege meinen Kopf über die Lampe.
Das Ende der Zigarette glimmt an. Mein Blick
fällt aufs Fenster. Hinter der Scheibe hält die
Nacht eine schwarze Tafel.

Blitzartig^ begreife ich die Chancen, die sich mir
bieten.

Ich nehme Schreibtisch, Lampe und Stuhl und
springe nach draußen. Ich komme vor die
schwarze Tafel zu sitzen.

Das war ein glücklicher Einfall von mir. Denn
ich habe einen Komparativ für allen gefunden.
Ich sitze mir nämlich jetzt gegenüber.

Wir sehen uns zu. Das heißt, ich sehe mir zu.
Wir ziehen unsere Lungen voll Zigarettenqualm
und blasen uns gegenseitig an. In unserer Mitte
prallt die Rauchwolke wo auf und quillt ausein-
ander. Wir blinzeln uns beide sehr neugierig an
und freuen uns im Geheimen, daß etwas zwischen
uns ist. Wir kokettieren mit einander. Wir möch-
ten uns gern gegenseitig herüberholen, obwohl
wir dem katzenhaften Funkeln unserer Augen an-
sehen, daß wir uns Böses tun werden. Wir zeigen
mit dem Zeigefinger nach uns, strecken die Zungen
heraus, schneiden Gesichter. Wir schielen, flet-
schen die Zähne. Unsere Bewegungen werden
hastiger, unsere Einfälle kühner. Es gerät etwas
Fliegendes in uns, etwas Wildes. Wir brauchen
uns nicht voreinander zu schämen; denn wir ken-
nen und sehen uns bis auf den schlammigen Bo-
den. In dem wühlen wir herum und freuen uns
mit zitterndem Nasenflügeln an dem Gestank, der
daraus aufsteigt.

Auf einmal lieben wir uns. Wir blicken uns
heiß in die Augen. Die Adern auf unsern Stirnen
sind geschwollen.

Schließlich werden wjr sehnsüchtig nach ein-
ander.

Ich merke sofort, worauf es abgezielt ist. Und
während i c h wuchtig das Fenster aufstoße,
springe ich katzenkühn und Menschen-heiß hin-
durch und an meine Brust.

Die Mainachtluft schwingt einen Kranz von
Sternen um meinen Kopf. Der Garten links unten
brennt in weißen, glasigen Farben.

Ich ziehe die Füße hoch und lasse mich fallen.
Tief-hoch falle ich und falle in das rauschsum-
mende Sternenmeer. Und immer tiefer und höher
werde ich sinken. Denn ich muß mich selbst
tragen und mein großes, tönendes, Weltraum-
schaffendes Allein-Sein.

Ernst Wilhelm Lotz

Katechismus

Durch den Rauch seiner Zigarette sprach er
diese Sätze vor sich hin:

„Ein Mädchen. Was ist es? — Ein Schatten;
solch ein Schatten, den ein brünstiger Traum nach
draußen wirft.“

Seine Brust sank ein, und er glitt auf dem Sofa
ein wenig nach unten. Lächelnd bemerkte er
weiter:

„Was ist ein Vater? — Eine Vorzeit. Was ist
einei Mutter? — Beinahe Nähe. Ein Bruder ist ein
Wort; wie seltsamen Klang es hat, aus kalter
Ferne rufend, aber schüchtern und heimlich —
wie eine Kinderlandschaft — manchmal. Und eine
Schwester — ist ein lieb, lieb singender Paradies-
vogel auf den Ebenholzinseln.“

Jetzt blickt er dicht an mir vorbei, indem er
die Brauen niederkniff.

„Aber ein Freund ist eine richtige Lüge. Ein
Freund ist das Maskenspiel einer einsamen Seele.“

Da schwieg er — mit müden Augen.

„Und du,“ fragte ich nach einer Pause, „was
bist du denn?“

Er zündete sich eine neue Zigarette an und
reichte mir seine Hand, langsam und lächelnd. Und
noch mit diesem Lächeln auf den Lippen, das
dann in einem leuchtenden Ernst unterging, sagte
er zögernd:

„Ich — bin eine Sehnsucht — nach mir — und
nach allen andern.“

Ernst Wilhelm Lotz

Kloster Neustift bei
Brixen

Auf himmlisch blauer Tür gemalt ein roter Löwe,
des Erzengel Michael Schwert in der Pranke,
ist meines Schlafes Unruh und lieblichen Wanzen
Hüter.

Dank dir!

Bis unter meinem Fenster frischgewaschen der
Tag aufspützend aus dem brüllenden Brausebad
des Eisack springt.

Weißes Brot und roter Wein mein Frühstück.

Ein Laienbruder hat mich dann durch die Bibli-
othek geführt.

Bunte Inkunabeln blühen wie ewige Blumen in
meinen Händen,

Pergament wird ganz warm wie wollüstig erregte
Frauenschultern,

die wer weiß wie lange nicht mehr befingert sind.
Es hat noch lange nicht sechs Uhr geschlagen.

Die Augustiner haben schon Besuch, Besuch aus
Brixen,

geistlichen Besuch — jawoll! — aus Brixen.

Die zweite Dreiliterkanne St. Magdalener ist schon
in Arbeit.

(Otto Erich, batzenhäuselts dich nicht droben?)
Die schwarzen Ordensröcke mit den weißen Ska-
pulieren haben direkt was urgemütlich Kränz-
chenhaftes.

Wieder andere, schon ältere, ganz alte liegen in
den kobaltdämmerigen Zellen
(o! — und doch schwitzt Sonne sich in diese
Kühle),

liegen in so wundervoll großväterlichen Wachs-
ruchsesseln,

blicken langsam aus dem Regensburger „Deut-
schen Hausschatz“,
dem Romane von Courths-Mahler,
auf zum Schmerzleib des Gekreuzigten.

Ob der Graf die arme Gouvernante wirklich hei-
ratet?

Das zu wissen — ist so wichtig.

Deshalb muß man sich beeilen.

Außerdem — man könnte sterben und’s nicht
mehr zu wissen kriegen.

Außerdem — brennt Frater Franz Seraphikus auf
die Geschichte.

Und auch er erwartet täglich den Besuch des
Todes.

Ueberhaupt ist das hier ein so langsam schönes,
stilles

Abschiednehmen von dem Leben,

Beten,

Lesen,

Essen,

Trinken.

Ach, die lieben alten Glocken!

Schnittlauch schneiden im Klostergarten.

Und als Sonntagsbraten kommt ein Kalb aus Ster-
zing.

Und den Wein wird heuer wie nur dreiundsechzig.
Daß man ihn noch, ihn noch miterleben durfte!
Muß der liebe Gott uns nicht sehr lieben?

Gratias! Es stirbt sich leichter also,
lebt sich leichter,
stirbt sich licht.

Alfred Richard Meyer

Das Holzbein

Von Peter Scher

Arnold Strich lebte mit seiner Frau Luise •—
die bessere Tage gesehen hatte — in dürftigen
Verhältnissen. Jedermann wunderte sich über
diese Ehe. Frau Strich war schlank, blond, katho-
lisch und aus guter Familie. Ihr Mann stammte
aus der Hefe des Volkes — da, wo sie am heftig-
sten gärt. Er war Atheist und hatte ein Holzbein.

Man fragte: Was kann zwei so verschieden ge-
artete Naturen aneinander fesseln?

Eine Dame antwortete: „Wenn das Holzbein
nicht wäre, würde ich sagen: nur die Liebe!“

Ein alter Schulrat sagte kopfschüttelnd: „Die

konfessionellen Gegensätze erscheinen mir als
stärkerer Hinderungsgrund.“

Eine ganz junge Dame wagte den schüchternen
Einwurf: „Wenn das Holzbein aber erst beim

Knie anfängt?“, worauf ihre Mama „schäm dich,
Alice!“ sagte.

Wie man sieht, wurde die Frage von Fern-
stehenden keineswegs erschöpfend beantwortet
Erst als es sich herumsprach, daß Strich — mit
Respekt zu sagen — saufe, und als man in, Luisens
hübschem Gesicht die Spuren eines verheerenden
Kummers entdeckte, fiel scheinbar etwas Licht in
das Dunkel.

Mit Strichs Trunksucht war es aber in Wahr-
heit so bestellt: Er trank aus Mitleid mit Luise.
Es war ihm unerträglich, sehen zu müssen, wie sie
unter den dürftigen Verhältnissen litt. Der An-
blick ihrer stummen Qual hatte in seinem gütigen
Herzen den; Entschluß reifen lassen, sich zu opfern.
Strich sagte sich: Wenn ich bloß trinke, frißt sich
der stille Gram über unser Elend immer tiefer in
ihre Seele — die ja doch bessere Tage gesehen
hat. Wenn ich hingegen saufe, wird sie bald Ge-
legenheit nehmen, sich zu empören und ihr be-
drücktes Gemüt durch laute Anklagen zu ent-
lasten.

Mit diesen Gedanken überantwortet sich Strich
der Trunksucht. Es muß aber gesagt werden, daß
die Entschließung eines heroischen Herzens selten
mit so viel Selbstlosigkeit durchgeführt wurde,
wie sie in der Folge Strich als Säufer an den Tag
legte.

Jeden Morgen, wenn die Sonne aufging, be-
leuchtete sie das gedunsene Gesicht eines Man-
nes, der sich mühselig an den Häusern entlang
nach Hause tastete. Dieser Mann war Strich.

Aber jeden Abend, wenn die Sonne unterging,
beleuchtete sie gleichermaßen mit aufreizender
Glut das Gesicht einer Frau, die dem eben von ihr
gegangenen Gatten mit mählich steigender Ent-
rüstung nachblickte. Diese Frau war Luise.

Eines Abends, als Strich sich wieder anschickte,
auszugehen, konnte sie nicht mehr an sich halten.

„Gute Nacht, Luise“, sagte er weich und gab ihr
die Hand.

Da stieß sie ihn zurück.

„Jetzt ist es genug!“ schrie sie mit gellender
Stimme.

„Luise“, sagte er ganz verdutzt. Und er sagte
es in einem Ton, der eher Bestürzung als Genug-
tuung ausdrückte.

„Schweig!“ sagte Luise hart, „du bist ein Säu-
fer! An mich denkst du nicht! Ich habe bessere
Tage gesehen! Warum habe ich dich geheiratet!
Atheist! Ein Holzbein hast du auch!“

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