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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 4.1913-1914

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Nummer 166/167 (Juni 1913)
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Scher, Peter: Das Holzbein
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Leonhard, Rudolf: O Welt
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Walden, Herwarth: Kritiker
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https://doi.org/10.11588/diglit.27574#0055
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„Oh Gott“, stieß Strich hervor, „o Gott,
Luise —“ mehr stieß er nicht hervor. Er mußte
sich setzen.

Strich hatte den Umschwung aufrichtig herbei-
gesehnt. Als nun aber Luisens harte Anklagen ihn
so unvermittelt trafen, fühlte er sich gleichwohl
im Innersten getroffen. Indessen bemeisterte er
seine Erregung.

„Luise“, sagte er, „du weißt nicht was du tust,
Luise!“

Sie lachte höhnisch. „Arbeite“ schrie sie, „was
hast du in der letzten Woche gemacht? Einen hal-
ben Aphorismus! Es ist zum lachen!

„Aber er wird blendend!“ stotterte Strich klein-
laut, und er wagte es schon nicht mehr, in ihr Ge-
sicht zu blicken, aus dem der stille Kummer ge-
wichen war. Er dachte: Ich habe mich von meinem
Mitleid hinreißen lassen! Wie habe ich — gelinde
gesagt — getrunken, um den stillen Gram dieses
Weibes nach außen zu lenken! Und wie hat sie auf
mein psychologisches Feingefühl reagiert? Sie hat
mich nicht verstanden — sie hat kein Herz! Ich
bin verloren!

Luise merkte nichts von seiner Bewegung.
Brüsk ging sie einen Schritt näher zu ihm hin.
Eine suggestive Ueberlegenheit ging von ihr aus.
Er wich unwillkürlich vor ihr zurück.

„Gib das Holzbein her!“ sagte sie befehlend.

Strich glotzte sie verständnislos an.

„Gib das Holzbein her!“ sagte sie noch einmal.

Nun schnallte er kopfschüttelnd, aber ohne
Widerspruch das Bein ab und reichte es ihr wort-
los hin. Sie nahm es, warf es in den oberen Kom-
modenkasten, schloß sorgfältig ab und steckte den
Schlüssel zu sich.

In Strichs Gehirn dämmerte eine furchtbare
Ahnung, „Lui —“ stöhnte er leise.

„Dichte!“ sagte sie eisig.

„Luise!“ wimmerte er und die Spuren ihres
verheerenden Kummers zeigten sich nun auf sei-
nem Gesicht. Luise bemerkte es ungerührt. Ihre
Züge glühten vom Bewußtsein ihrer Macht.
„Dichte!“ schmetterte sie ihm entgegen. „Heut
gehe ich aus. Wenn ich wiederkomme, will ich
deine Arbeit sehen. Ist sie gut, kriegst du fünfzig
Pfennig und das Bein. Im andern Falle bleibst
du zu Hause. So wird es in Zukunft gehalten!“

Sie ging. Strich barg sein Gesicht in beiden
Händen; er weinte.

In der Kommode klopfte das hölzerne Bein —
erst leise mahnend, dann stärker und endlich in
einem rasenden Wirbel. Aber Strich schüttelte
nur wehmütig den Kopf.

„Vorbei!“ flüsterte er bewegt.

O Welt!

Man weiß, daß ein Gefesselter, über den der
Henker schon die Arme hob, sich vom Richtblock
aufwarf und es herausschrie: „0 Welt —daß
das fallende Beil den Nacken verfehlte und schräg
in den Schädel fuhr —

Aber viele haben es noch gesagt; in jeder
Stunde aller Tage wird es tausendfach gestöhnt
und gerufen.

Einer, der auf dem Wege stand und auf einen
Wald starrte, der wie ein gefleckter Pelz auf dem
Berge hing, sagte es: „O Welt!“

Und Meilen davon einem, der betrunken in den
Rinnstein rollte, rang es sich als letztes aus dem
schweren Kopfe: „O Welt!“

Ein Mädchen, das eben zwölf Jahre alt war,
ging in rotem Kleide über die Straße; nichts war
so schlank wie ihre Beine, ihr Haar hing tief um
den schmalen Rücken. Und in den Augen, die ent-

lang die lange Straße in den blauen Rauch der
Weite sahn, stand mit Worten, die keinen Klang
hatten: „O Welt!“

Und ein Briefträger, der in durchnäßten Klei-
dern zitternd nach Hause kam, dachte lächelnd:
„O Welt!“

Ein Heiliger sagte: „Es geschieht meine Ver-
mählung mit allen Dingen. Herr bin ich nun aller
Dinge und allen Dingen ergebner Knecht. In
immer neuen Sünden werde ich sie schmerzlich
berühren. Alle werden in meine Wollust einziehn.

Ich' liebe alle Dinge sehr. Ich kann Bäume um-
fassen und mit der Hand über Steine streichen.
Nur mir selbst werde ich nie- blickend begegnen —

Da sah der Heilige alle Dinge ausgebreitet vor
seinem Herzen und sagte: „— O Welt! —“

Rudolf Leonhard

Kritiker

Reinigung

Herr Max Nordau, geboren 1849 zu Budapest,
Arzt und Doktor der Medizin, beschimpft seit eini-
gen Jahrzehnten in Büchern und in der Vossi-
schen Zeitung von Staats- und gelehrten Sachen
alle bedeutenden Künstler der Gegenwart. Er be-
absichtigt offenbar nicht weniger, als den letzten
schäbigen Rest von Kunstgefühl den Zeitgenossen
herauszuoperieren. Er vergriff sich mit stumpfem
Messer an Nietzsche und Ibsen, stellte ihnen die
Diagnose auf Geisteskrankheit, weil ihn selbst der
Geist sogar ohne eine Spur von Krankheit ver-
ließ und wurde daraufhin Kunstkritiker der Vos-
sischen Zeitung. Dieses Amt versieht er seit Jahr-
zehnten von Paris aus, da dieser Posten ebenso-
lang in Berlin durch den Journalisten Herrn Pro-
fessor Pietsch besetzt war und nach dessen kör-
perlichem Tode würdig und pietschvergnügt durch
Herrn Karl Scheffler ersetzt wird. Dieser Herr
Nordau schreibt in der Vossischen Zeitung vom
5. Juni: „Es ist mir unbegreiflich, wie einsichtige,
aufrichtige Kunstfreunde auf den Herbstsalon und
den Salon der Unabhängigen schimpfen können.
Ich halte sie für einen Segen. Wenn sie nicht
wären, müßte man sie erfinden. Sie sind die Ab-
zugskanäle für den Kunstunrat. Sie sind die uner-
läßliche Vorbedingung für die Reinlichkeit der
Straßen und Plätze. Wenn alles Müll und alle
Übeln Stoffe nicht in sie abfließen, könnten die an-
ständigen Salons, die der Nationalgesellschaft und
der Gesellschaft französischer Künstler, nicht den
tadellosen Anblick darbieten, der an ihnen erfreut.“
Was er darunter versteht, sagt folgender Satz:
„Daß man in den beiden Salons des Großen Pa-
lastes nicht der Beleidigung ausgesetzt ist, auf
Futurismus, Kubismus, Geometrismus, Orphismus
und ähnlichen frechen Ulk oder Irrsinn zu stoßen,
ist gut.“ Diese Produkte des Herrn Nordau lagert
die Vossische Zeitung auf ihre Leser ab. Eine
ordentliche Fuhre Müll, denkt sie, um so üppiger
kann die Kunstlosigkeit wuchern. Die unleser-
lichen Rezepte des Herrn Doktor Nordau über
Kunst werden den Lesern in sechs vollen Spalten
verordnet. Diese unsinnigen Giftmischereien ge-
nossen. Der Unsinn stinkt zum Himmel. Man
ist wortlos. Man kann nicht widerlegen, nur wie-
derdrucken, um dieses Dokument der Zeitschande
den Zeiten zu überliefern. Der gröbste Keil kann
diesen groben Klotz nicht treffen. Herr Nordau
stolpert schon über Rodin: „Zu beschreiben ist der
völlig unförmige Klotz nicht. Den annähern d s t e n
Begriff von ihm gibt etwa ein vom Zufall geform-
ter Kalkstalaktit in einer Tropfsteingrotte, in dem

der Fremdenführer eine bestimmte Gestalt sehen
will, oder eine Felsenzinke der bekannten „ver-
wunschenen Hochzeit“ von Hans Heiling bei
Karlsbad, in der eine gefällig nachhelfende Einbil-
dungskraft einen Mönch, eine Schwiegermutter
oder eine Braut entdeckt.“ Die bestimmte Gestalt
des Herrn Nordau ist unverkennbar, wenn auch
unbeschreiblich. Hingegen über einen Herrn
Maxence: „Edgar Maxence geht nicht bis
nach Athen oder Rom, sondern nur bis nach dem
Florenz der Renaissance zurück, um Schön-
heit zu finden. Seine reich gekleidete junge
Frau in Profil, die stehend aus einem auf hohem
Pult aufgeschlagenen Psalterium singt, ist zeich-
nerisch unübertrefflich und dabei von einer Innig-
keit und Lebensfülle, die selbst die technische Voll-
endung vergessen lassen.“ Das wäre der Mann,
der Herr Nordau malen müßte, wenn er stehend
aus einem auf hohem Pult aufgeschlagene Exem-
plar der Vossischen Zeitung seine Artikel liest.
Oder wenn Herr Nordau sich das von ihm eigens
beschriebene Bild „Apotheose“ betrachtet, das
„einen prometheischen Funken enthält, der es
durchglüht und aus ihm strahlt.“ So sieht das
funkenstiebende Bild aus: „Dieses für den kleinen
Palast bestimmte ungeheure Deckengemälde zeigt
eine sinnbildliche Verkörperung Frankreichs, wie
sie mit weit klafternden Schwingen über Paris in
den blauen Himmel emporfliegt. Die Stadt ist
durch einige ihrer kennzeichnendsten
Baudenkmäler angedeutet, die aus der Vogel-
perspektive sichtbar werden: den Tri-
umphbogen, die Türme von Notre Dame, den
Eiffelturm. Der weibliche Genius nimmt auf s e i -
n e m Fluge eine junge Person von aus-
gesprochendstem Montmartretypus mit,
die an ihn geschmiegt ist. Ein großer, schöner
Uhu begleitet majestätisch schwebend die
Grupp e.“

Offenbar ein Reklamebild für Luftfahrzeuge.
Wer so etwas für Kunst hält, den kann man nur in
die anständigen Salons abrieseln lassen.

Nachfolger

Der Literaturkritiker Herr Doktor Paul Schlen-
ther hat wieder einmal schwere Sorgen. Zunächst
über die Nachfolge Erich Schmidts, dann über die
Philippis. Viele Menschen halten offenbar vom
Amt eines Literaturprofessors sehr viel. Trotzdem
seine Tätigkeit nur darin besteht, entlassenen
Schülern den Rest von Kunstgefühl aus dem Leib
zu treiben. Jeder Professor nimmt sich einen toten
Dichter vor und versucht das an ihm zu galvani-
sieren, was tot ist oder gar nie lebendig war. Nach
und nach verdrängt der Professor den Dichter
ganz, sodaß die Leute statt eines Gedichtes von
zehn Zeilen tausend Zeilen Auslegungen über die-
ses Gedicht lesen. Herr Doktor Schlenther schaut
so zu Herrn Professor Schmidt herauf, wie Herr
Professor Schmidt auf Goethe hinab. Herr Pro-
fessor Schmidt war nämlich, sagt Schlenther, ein
großer Charakteristiker. Er hat sich nicht nur über
Goethe geäußert, sondern auch über Roethe. Beide
Herren sind sich bis auf einen Buchstaben ähn-
lich, aber trotzdem nicht zu verwechseln. Höch-
stens durch die Charakteristik Erich Schmidts:
„Erich Schmidt schrieb mir einmal halb neckend,
halb charakterisierend von Roethes Feuer-
seele. Der große Charakteristiker traf auch hier
den einen Mann mit dem einen Wort.“ Mit
der Feuerseele kann man hundert Mann auf
Schmidt und Tritt verbrennen, ohne, sich in die Un-
kosten eines einzigen Streichholzes zu stürzen.
Aber auch Herr Doktor Schlenther hat dem
Schmidt sein feuriges Handwerk abgeguckt. Er
schmiedet die Feuerseele weiter zu einem „Heiß-
sporn“. Mit diesem zweiten Wort ist eigentlich

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