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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 4.1913-1914

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Nummer 172/173 (August 1913)
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Behne, Adolf: Gino Severini
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Rimbaud, Arthur: Gedichte
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Schwob, Marcel: Die Leichenfrauen
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https://doi.org/10.11588/diglit.27574#0077
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Gino Severini

Wenn das Programm die Kunstempfindenden
stört oder gleichgültig läßt, so erregt es erfah-
rungsgemäß bei den Gebildeten lebhafteste Anteil-
nahme. lieber „Programme“ läßt sich so schön de-
battieren, so scharf und anregend diskutieren, auch
wenn man noch so weit vom Schuß ist, nämlich
selbst wenn man kein einziges der in Frage stehen-
den Bilder überhaupt gesehen hat! So hat man
denn auch den Futuristen kurzerhand den Prozeß
gemacht, nicht etwa, weil man die Bilder un-
künstlerisch fand — man hatte sie sich daraufhin
wirklich nicht angesehen! — sondern weil die von
den Futuristen gepredigte Vernichtung der Mu-
seen, ihre Verherrlichung des Krieges, ihre Apo-
theose der Aeroplane, die Darstellung sich folgen-
der Zustände in einem Bilde usw. usw. als „falsch“,
als „unlogisch“ oder als „irrtümlich“ erschienen!

Inzwischen ging es, wie es der Kunst immer
geschieht: während die „Intellektuellen“ ihre Ver-
dikte fällten und über das Programm Hinrichtung
auf Hinrichtung häuften, wuchs unter den Händen
der produktiven Künstler eine Welt des Schönen
hervor!

Was über das Schicksal einer „Richtung“ ent-
scheidet, ist allemal die künstlerische Begabung
ihrer Anhänger. „Nichtskönnen“, hat Arnold Böck-
lin einmal gesagt, „ist noch lange keine neue Rich-
tung!“ Nun waren unter den Bildern der ersten
„Sturm“-Ausstellung“ neben einigen vortrefflichen
doch auch manche unzulängliche und schwache.
Dadurch trat das Brauchbare und Fruchtbare nicht
so deutlich in die Erscheinung, wie es zu wünschen
gewesen wäre.

Wenigstens schien es so! Der schärfer Zu-
sehende erkannte in der Folgezeit, daß manche An-
regungen der Futuristen doch nicht nur auf stei-
nigen und dornigen Boden gefallen waren. Allein
der Umstand, daß ein so innerlicher und feiner
Künstler wie Franz Marc futuristische Elemente
in seine Bilder übernahm, mußte auch bei dem
größten Skeptiker für den Anregungswert und die
künstlerische Bedeutsamkeit der Futuristen spre-
chen. Und jetzt überrascht uns nun, wiederum
vom „Sturm“ eingeladen, Gino Severini mit
einer Kollektion futuristischer Gemälde und Zeich-
nungen, die einen sehr starken und nachhaltigen
Eindruck machen!

Severini hatte schon in jener ersten Ausstel-
lung mit seinem Bilde des „Pan-Pan-Tanzes“ die
Aufmerksamkeit gefesselt — seine neuen Schöp-
fungen stehen jedoch auf einem weit höheren Ni-
veau. Jene Bilder etwa, die einen zwischen Häu-
sern durchfahrenden Schnellzug zum Thema
haben, müßten nach meinem Dafürhalten jeden
Unbefangenen überzeugen, daß es sich hier nicht
um einen Bierulk, sondern um ein sehr ernstes
Problem handelt! Severini will das Gefühl des
Sausens, des Donnerns, den Eindruck, der im
Sturme vorbeifliegenden Häuser ausdrücken mit
Linien, mit Flecken, mit Formen. Er will keines-
wegs einen an Häusern vorbeifahrenden Zug dar-
stellend abmalen. Daß der rein opische Eindruck
auf der Netzhaut anders aussieht, weiß er so gut
wie wir alle! In solchem „Abmalen“ aber sieht
Severini nicht die Aufgabe der Malkunst, denn
solches Wiedergeben leistet ja die Photographie
weit genauer und besser. Severini wehrt sich in
seinem sehr klugen Vorwort mit Recht auch gegen
das Mißverständnis, als wolle er dem Kinema-
tographen Konkurrenz machen! Gewiß, sein
Ziel ist die Suggestion der Bewegung. Aber er
will es nicht erreichen dadurch, daß er die Bewe-
gung in die einzelnen Phasen zerlegt, sondern,
ganz im Gegenteil, durch ein Zusammenballen, ein
Konzentrieren alles dessen, was wesentlich ist,

durch Ausscheiden alles Nebensächlichen! „Der
Kinematograph stellt eine Analyse der Bewegung
dar, unsre Kunst jedoch ist eine Synthese!“ Man
muß Severini auch zustimmen, wenn er den Aus-
druck „Bewegung“ als irreführend durch den bes-
seren Ausdruck „Dynamismus“ ersetzen möchte.
Der Futurist will nicht so sehr die Abwicklung
einer äußeren Bewegung geben, als die innere
Lebendigkeit, die allen Dingen innewohnende Be-
weglichkeit. Nicht „deplacement“ will er geben,
sondern „dynamisme“.

Das Mittel, das zum Ziele führt, ist vielleicht
am besten so zu charakterisieren: der Futurist
schafft nach der Erinnerung, nach dem seelischen
Erlebnis, das er sich als „Vision“ aus dem Inneren
heraufruft. Aber auch das Erinnerungsbild gibt er
keineswegs genau wieder. Er zerbricht es gleich-
sam und baut es aus dem Wesentlichen neu auf.
Zu diesem Aufbau gehört eine Stärke des Gefühls,
eine Intensität des „Gesichtes“, die man bewun-
dern muß. Das, was entsteht, ist der schärfste
Gegensatz zum Impressionismus, ist nicht die mög-
lichst objektive Wiedergabe des Bildes auf der
Netzhaut, sondern ein subjektives Erlebnis, belas-
tet mit „den vielfältigen Einflüssen der Erinnerung,
des veränderlichen Standpunktes und des Ge-
fühls!“

Um es zu wiederholen: die „Lehre“ der Futu-
risten ist solange „falsch“, als noch kein Künstler
sie zu bezwingenden Werken umschuf — und
wenn, wie jetzt durch Gino Severini, Kunstwerke
von hohem Rang vor uns hingestellt werden, dann
hat man Besseres zu tun, als das „Programm“
durchzuhecheln. Man gebe sich dem Eindruck
dieser Bilder unbefangen hin: die Terrasse von
„Pub“ auf Montmartre wirkt faszinierend: Hitze,
Schilder, Markisen, Stille, leere Straßen, gedan-
kenloses Dasitzen sind hier mit einer ganz er-
staunlichen Intensität gebannt. Und im „Fest auf
Montmartre“ wirkt der tolle Zauber, der Trubel
und Jubel der Farben, Lichter, Raketen, Treppen,
Aussichtspunkte, Brücken, Sterne geradezu an-
steckend. Ich glaube nicht, daß irgendein soge-
nanntes „naturrichtiges“ Bild eines Festes die
gleiche unmittelbare Wirkung ausüben könnte.
Wenigstens ist mir ein solches nicht bekannt.

Dr. Adolf Behne

Gedichte

Von Arthur Rimbaud
Die Läusesucherinnen

Zu weißen Träumen fleht das Kind beklommen
Sein Haupt erglüht in heißer roter Qual
Da ist zu seinem Bett ein Schwesterpaar ge-
kommen

Mit schlanken Fingern, Nägeln wie Opal.

Ans Fenster führen sie das Kind — es kühlen
Tiefblaue Lüfte eine Blumenschar —

Und ihre schaurig süßen Finger wühlen
In seinem taugetränkten schweren Haar.

Es horcht auf ihr gepreßtes Atemholen.

Das duftet rosig milden Honigseim,

Ein feuchtes Schlürfen hört es, halbverstohlen —
Wie eines Kußgelüstes leisen Keim.

Es sieht ihr leuchtend Aug sich träumend weiten —
Die Finger sind elektrisch sanft durchloht.

Es fühlt der königlichen Nägel Gleiten
Und hört der kleinen Läuse Knistertod.

Da fließt der Trägheit Wein in goldnen Welten
— Harmonikagetön durchs blaue Land —

Und immer wollen seine Tränen quellen
Und sterben bei dem Streicheln ihrer Hand.

Der Schläfer im Tal

Ein Fleck von Grün, drin eines Bächleins Sagen,
das Silberflitter an die Gräser hängt,
die in dem stolzen Sonnenglanz entspringe» —-
ein kleines Tal von Helle ganz durchtränkt.

Mit unbedecktem Haupt und offnem Munde
schläft ein Soldat, im frischen roten Kraut
den Nacken badend, blaß auf grünem Grunde
im Bett von Gras, darauf die Wolke schaut.

Mit Blättern deckt ihn leise zu der Wind
er schläft und lächelt wie ein krankes Kind —
o wieg ihn warm Natur, ihn friert so heute . . .

Die Nüster bebt vom starken Waldduft nicht
er liegt ganz still im weißen Sonnenlicht —
er hat zwei rote Löcher in der Seite.

Nachdichtung von Heinrich Horvät

für Vilma Balogh

Die Leichenfrauen

Von Marcel Schwöb

Daß in Libyen, an den Grenzen Aethiopiens,
wo sehr alte und sehr weise Menschen leben,
noch geheimnisreichere Zaubereien Vorkommen
als die der thessalischen Schwarzkünstlerinnen,
kann ich nicht bezweifeln. Es ist gewiß entsetz-
lich, wenn man sich vorstellt, wie die Beschwö-
rungen von Frauen den Mond in ein Spiegelkäst-
chen bannen können oder ihm zur Zeit seiner
Vollheit in einen Silberkübel untertauchen heißen,
zusammen mit den aufzischenden Sternen, oder
im Ofen ihn wie eine Quabbe braten, und daß in-
dessen die thessalische Nacht schwarz bleibt und
die Wärwölfe frei umherlaufen dürfen; das ist
gewiß entsetzlich. Aber vor all dem wäre mir
weniger bang, als in der blutroten lybischen
Wüste noch einmal libyschen Leichenfrauen zu
begegnen.

Wir hatten, mein Bruder Ophelion und ich, die
neun verschiedenen, Aethyopien umspannenden
Sandringe durchwandert. Da gibt es erdfarbne
Dünen, die weit draußen graugrün schimmern wie
das Meer oder himmelhell wie Teiche. Die Zwerg-
männer reichen nicht bis an diese Strecken; wir
hatten sie hinter uns gelassen, in den großen, für
die Sonne undurchdringlichen Schattenwäldern;
und die kupferfarbnen Völker, die sich von Men-
schenfleisch nähren und einander am Knirschen
ihrer Kiefer erkennen, wohnen weiter im Westen.
Die rote Wüste, wohin wir eindrangen, um uns
nach Libyen zu begeben, ist scheinbar von Sied-
lung und Sippe gänzlich entblößt.

Wir reisten sieben Tage und sieben Nächte.
Dort ist die Nacht durchsichtig und blau, kalt und
den Augen so gefährlich, daß zuweilen sechs Stun-
den die nächtlich blaue Klarheit den Augapfel an-
schwellend auftreibt, und der Erkrankte den Son-
nenaufgang nicht mehr sieht. Aber dies Uebel
überfällt den Wanderer nur, wenn er sich ohne
Hülle um den Kopf auf dem Sande dem Schlaf
hingibt; wer Tag und Nacht ausschreitet, hat
nichts zu befürchten; bloß der weiße Staub reizt
ihm im Sonnenlicht die Lider.

Am Abend des achten Tages bemerkten wir
auf der blutroten Fläche einen Kreis blanker,

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