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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 4.1913-1914

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Nummer 184/185 (November 1913)
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Walden, Herwarth: Aage von Kohl
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Claudel, Paul: Verkündigung: Ein geistliches Stück in vier Ereignissen und einem Vorspiel
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https://doi.org/10.11588/diglit.27574#0125

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Aage von Kohl

Man kann nach einer Photographie kein Ge-
mälde sehen und fühlen. Man kann das Kunst-
werk im günstigsten Fall ahnen. Man sieht die
Photographie, wenn das Gemälde unersehbar ist.
Man liest die Uebersetzung, wenn die Dichtung
unerlesbar ist. Welch ein Genie muß vor uns auf-
erstehen, wenn es in nächster Nähe unnahbar
scheint, eine Sonne, die uns über und über er-
leuchtet, trotzdem die Erde vor ihr flüchtet. Die
Erde dreht sich und diese Sonne hält uns. Ein
Kunstwerk, das zwingt, trotzdem ihm sämtliche
Organe, die Wörter, genommen oder mindestens
getauscht sind. Der große Schoß nimmt uns auf.
Der Uebersetzer sucht sich angstvoll den Weg
durch die Nacht.

In Dänemark lebt ein großer Künstler. Er heißt
Aage von Kohl. Ihm ist das Schicksal vieler dä-
nischer, schwedischer, norwegischer Autoren,
wenn auch schwächerer Talente, erspart geblieben,
als deutscher Unterhaltungsschriftsteller gerund-
schaut zu werden. Er ist zu hart, zu eckig, zu ku-
bistisch dazu. Menschen und vor allem „Kritiker“
verstehen künstlerische Gefühle nur, wenn sie ihre
Gefühlchen in dem zusammensuchen können, was
ihnen als Kunst erscheint. Dort, wo der Organis-
mus nicht geschlossen ist. Wo Platz zum Sam-
meln ist, weil die Sammlung fehlte.

Dieser Aage von Kohl ist ein Genie. Er schrieb
einen Roman, der Kunst ist. Er erzählt nicht,
er dichtet ein Erlebnis, das Erlebnis wird Kunst,
weil er es gestalten kann: er schafft ein Buch nach
seinem Ebenbilde, das gleich ihm, durch ihn und
ohne ihn ein ganzes Leben lebt.

Jedes Kunstwerk ist ein Organismus. Aber in
den Künsten sind nur die Krüppel beliebt. Ein
gegliedertes gradgewachsenes Kunstwerk wirkt
auf den Beschauer, den Behörer, den Beleser ver-
rückt. Alle Welt sieht stets nur die Glieder, die
aller Welt selbst angewachsen sind.

Es gibt Kunstwerke, einzelne, über Jahrhun-
derte verstreute, die leuchten so, daß Blinde die
Augen aufschlagen und Taube die Ohren öffnen.
Sie hören Licht und sehen Klang. Zu diesen Wer-
ken gehört das Buch des Aage von Kohl: Der
Weg durch die Nacht. Das Buch heißt in der
Sprache des Dichters: Det störe Sköd (Der große
Schoß).

Es ist kritiklos, eine Kritik zu schreiben über
etwas, das kritiklos ist. Man kann nicht sondie-
ren, während man sondiert wird. Man kann nicht
die Sonne loben.

Nie ist in einem Kunstwerk das Unstoffliche des
Stoffs stärker enthüllt worden. Die Handlung er-
zählt von Lustmord und der Lustmord klingt wie
glückesvolle Geburt. Die Handlung erzählt von
dem Jammer des Mannes und der Jammer des
Mannes klingt wie der Jubel des Liebenden. Die
Handlung erzählt von dem Geständnis des Mör-
ders und das Geständnis des Mörders klingt wie
die Offenbarung des Schöpfers.

Hier ist, wie in jedem ewigen Kunstwerk, das
Vergängliche nur ein Gleichnis.

Das empfindet der Dichter Glaß nach dem Ge-
ständnis Mummes, des Mörders der geliebten Frau:

„Im ersten Augenblick windet sich Glaß wild.
Runzelt gleich darauf seine Brauen und starrt
steif und heiß zurück. Aber im nächsten Nu glät-
tet sich seine Stirn von Neuem, aus dieser
schmerzvollen Wunde im tiefsten Innern quillt pur-
purrot das Blut letzend in alle seine Fibern hin-
aus. Sein Auge dehnt sich im selben Moment
heiß und klar. Sein Sinn wird hoch, meilenhoch —
und er vermag auf einmal das Ganze zu über-
schauen, vermag den lückenlosen Zusammenhang

zwischen allem zu erkennen! Er sieht auf einmal
sich selbst und Mumme — als winzig kleine Teile
eines ungeheuren Ganzen. Siehe, Mumme und er
sind Punkte auf der Spanne Tag und auf der
Spanne Nacht — unauflöslich verbunden durch
Morgendämmerung und durch Abend! Die bei-
den sind ein Bild von der Erde zwiefachem Ant-
litz von Schmerz und von Lust! Das Zwillings-
paar Unglück-Glück — das kämpfende Doppel-Ich
der ganzen Welt, das ewig mit sich selbst ringen
muß —, damit wir alle erreichen können, was wir
begehren! Mein Gott, ja, jetzt sehe ich es deut-
lich von dem Kleinsten bis zu dem Größten, jetzt
gewann mein Herz eine Wonne und eine Macht
wie nie zuvor —: Lebe wohl, Karl Mumme, mein
Bruder, jetzt scheiden wir frei, du und ich — die
wir gebunden zusammengeführt wurden, um zu
lernen!“

Hier ist ein Künstler, ein Großer, der sich klein
empfindet, ein Andächtiger, ein Glaubender, ein
Liebender. Ein Geschaffener und ein Schaffender.
Ein Getragener und ein Träger seiner Visionen.

Ein Ewiger.

Herwarth Waiden

Verkündigung

Ein geistliches Stück in vier Ereignissen und
einem Vorspiel

Paul Claudel

Vorspiel

Die Scheune in Salhof. Ein großes Gebäude
mit viereckigen Stützen und darauf hölzerne
Spitzbogen. Der Raum ganz leer, bis auf den
Hintergrund des rechten Flügels, der noch mit Stroh
angefüllt ist, Strohhalme auf der Erde, der Boden
zerstampft. Im Hintergrund ein großes zweiflüge-
liges, in die dicke Mauer eingefügtes Tor mit um-
ständlichen Riegeln und Schlössern. Auf den bei-
den Flügeln zwei roh gemalte Bildnisse des heili-
gen Peters und des heiligen Paul, der eine mit
dem Schlüssel, der andere mit dem Schwert.
Eine dicke gelbe Wachskerze, in einer eisernen
Kralle am Pfeiler angebracht, beleuchtet sie.

Die Handlung spielt in einem Mittelalter freier
Erfindung, so etwa, wie sich die mittelalterlichen
Dichter das Altertum vorgestellt haben.

Zu Ende der Nacht, in den ersten Morgen-
stunden.

Auf einem mächtigen Pferde ein Mann in einem
schwarzen Mantel, das Gepäck im Sattel, Peter
von Ulm. Sein riesiger und lebhaft bewegter
Schatten zeichnet sich hinter ihm auf die Mauer,
auf den Boden und die Pfeiler. V i o 1 ä n e tritt
plötzlich zwischen den Pfeilern hervor und ihm
lentgegen. Sie ist groß und schlank, barfuß, in
grobes Linnen gekleidet, und hat um den Kopf ein
halb bäuerisches, halb klösterliches Tuch.

Violäne (hebt lachend und mit verschränk-
ten Fingern ihre beiden Hände gegen den Reiter):
Halt, Herr Ritter! Abgestiegen!

Peter von Ulm: Violäne!

(Er steigt vom Pferd)

Violäne: Gemach, Meister Peter! Schleicht
man sich so hinaus wie ein Dieb, ohne den Damen
geziemend Ade zu sagen?

Peter von Ulm: Violäne, zieht euch zu-
rück. Es ist noch tiefe Nacht, und wir sind hier
allein beisammen. Ihr wißt, ich bin kein so ganz
zuverlässiger Mensch.

Violäne: Baumeister, mir ist nicht bange
vor Euch! Das Wollen allein macht es nicht!

Bei mir kommt man keineswegs nach Gefal-
len zum Ziele! Armer Peter! Ihr habt mich ja
nicht einmal umzubringen vermocht.

Mit Euerm erbärmlichen Messer! Nur eine
kleine Schürfung am Arme, kaum zu bemerken.

Peter von Ulm: Violäne, Ihr müßt mir
verzeihn.

Violäne: Darum bin ich hier.

Peter von Ulm: Ihr seid meine erste
Liebe; vor Euch hab ich keine berührt. Der Teu-
fel hielt mich am Kragen; er weiß die Gelegen-
heit auszunutzen.

Violäne: Aber Ihr fandet mich stärker als
ihn!

Peter von Ulm; Violäne, ich bin jetzt noch
gefährlicher als damals.

Violäne Wollen wir uns von neuem messen?

Peter von Ulm: Schon meine Näh ist un-
heilvoll.

(Schweigen)

Violäne: Ich versteh Euch nicht.

Peter von Ulm: Genügte mir nicht, Steine
zu schichten, Holz zu keilen und Metalle zu
schmelzen?

War mir mein Werk nicht genug? Auf einmal!

Leg ich die Hand an das Werk eines andern
und lasse mich einer lebendigen Seele gelüsten?

Violäne: In dem Haus meines Vaters, Euers
Wirtes! Herr, was wäre entstanden, wenn mans
erfahren hätte. Aber ich hab es wohl bewahrt.

Und jeder hält Euch wie vorher für einen bie-
dern, untadligen Mann.

Peter von Ulm: Gott richtet das Herz un-
term Scheine.

Violäne: Es bleibt also unter uns dreien.

Peter von Ulm: Violäne!

Violäne: Meister Steinmetz?

Peter von Ulm: Stellt Euch hier neben

«die Kerze; ich will Euch in die Augen schaun.
(Sie stellt sich lächelnd unter die Kerze. Er blickt
sie lange an.)

Violäne: Habt Ihr mich nun lang genug be-
staunt?

Peter von Ulm: Wer seid Ihr, junges
Weib, und worin ward Gott in Euch so besonders
offenbar, daß die Hand, die sich auf Euch mit
Wünschen legt, und der ganze Leib verwelken,
als wären sie dem Geheimnis seiner Wohnung nah
gekommen?

Violäne: Was ist seit einem Jahr mit Euch
geschehn?

Peter von Ulm: Schon am Tag nach dem
Ereignis . . .

Violäne: Nun?

Peter von Ulm: Bemerkt ich in mei-

ner Seite die gräuliche Krankheit.

Violäne: Eine Krankheit, sagt Ihr? Was für
Krankheit?

Peter von Ulm: Den echten Aussatz, wo-
von das Buch Mose kündet.

Violäne: Aussatz? Was ist das?

PetervonUlm: Habt Ihr niemals von1 jener
Frau gehört, die ganz allein in den Schluchten der
Ach lebte. Verschleiert vom Kopf zu Fuß, und in
ihren Händen eine Klapper?

Violäne: Diese Krankheit meint Ihr, Mei-
ster Peter?

Peter von Ulm: Sie ist also beschaffen,
daß der in ihrer ganzen Bosheit von ihr Ergriffne
sogleich muß entfernt werden, denn es ist kein
lebendiger Mensch so gesund, daß ihn nicht könnte
der Aussatz ergreifen.

Violäne: Wieso wandelt Ihr dann in Frei-
heit unter uns?

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