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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 4.1913-1914

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Nummer 184/185 (November 1913)
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Babillotte, Arthur: Die Schwermut des Genießers, [14]: Roman
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Zech, Paul: Zwei Wupperstädte
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Cendrars, Blaise: La Prose: du Transsibérien et de la Petite Jehanne de France
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https://doi.org/10.11588/diglit.27574#0130

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blaue Stunde erlebt, bevor sie von dem Meister
geschaffen wurde . . .

Tief atmend stand er wieder vor dem Bild.
Dieses stille Erlebnis wühlte die Tiefen seiner
Seele auf, ließ ihn erkennen, daß sein Glaube, er
habe sich von allem Vergangenen befreit, ein from-
mer Wahn gewesen sei. In dieser Stunde erfuhr
er, daß keiner die Vergangenheit so heldilsch
überwinden kann, daß sie ihm dienstbar ist, daß
ihr Gesicht d i e Züge annimmt, die er ihm be-
fiehlt. Er erfuhr, daß die Vergangenheit streng
und unbestechlich ist wie die Gerechtigkeit.. Und
plötzlich wußte er: friedloser wie je war er in
diesen Tagen gewesen. Friedloser und ärmer war
er geworden, seit er sich von seinem ersten
Werke losgesagt hatte. Er kam sich vor wie ein
Verräter, und alle Einwände, die sein überlegener
Verstand dazwischen schob, vermochten den
Selbstanklagen nicht stand zu halten. Wie kahl
und arm und nüchtern waren diese Monate ge-
wesen! Wie ein braver Bürger hatte er sich
trauen lassen, war vier Wochen lang als neuer
Bürger durch die Straßen der schrecklichen Stadt
gewandelt.

Wie müde und vergrämt war er gewesen, als
er endlich die Stadt verlassen hatte. Dann war
er durch das ganze Land gereist, hatte Eva die
Schönheiten gezeigt und für sich die Schönheit
der Menschen. Er hatte immer nur die Nüchtern-
heit gefunden. In schmerzlosem Trotz war der
Gedanke über ihn gekommen, ein Werk zu schaf-
fen, das die Menschen mitreißen sollte durch die
Gewalt seiner Nüchternheit. Begierig hatte er
sich an diesen Gedanken festgeklammert.. Aber
nach zwei Tagen erschien er ihm nur als das
schamvolle Gelächter eines Verirrten.

Hier stand er vor diesem tönenden Farben-
gedicht und sah nur Not und Armseligkeit. Die
Leiber der nackten Frauen waren in blauen Duft
der Dämmerung zerronnen . . . unheimlich brei-
tete sich die grenzenlose Oede. Dies war die
Wüste. Wohin er blickte, war Wüste. In dem
Gerassel der Straßen, in Cafes und Restaurants,
in den Sälen des Museums: überall Wüste. Der
alte Traum stürzte mit der wütenden Kraft des
Verschmähten über ihn her. Als kämen alle Ge-
danken, die feindlich auf diese Stunde gelauert hat-
ten, aus allen Ecken und Enden hervor. Alles,
was er in diesen traurigen Monaten erlitten hatte,
umringte ihn und blickte ihn an aus elenden gram-
vollen Augen; abgemagerte Hände streckten sich
ihm entgegen, aus häßlichen Mündern flössen
klägliche Worte. Alle Not des Volkes kam zu ihm,
aller Haß der Beladenen. Und auch der Hochmut
und die kalte Sorglosigkeit der Reichen, ihre hohle
Selbstherrlichkeit, ihre Verachtung der Gezeich-
neten. Hilflos war er geworden, klein und ver-
zagt. So elend war er nicht gewesen, als er sich
von jenem Weib losriß und gegen die Qual dieses
Mutes kämpfen mußte.

Er war allein im Saal; von fern flössen ge-
dämpfte Stimmen heran, tiefe und hohe. Ein
Lachen mischte sich hinein. In dieser Stunde er-
lebte Johannes alles Weh und alle Lust der gro-
ßen Stadt. Sie war lieblich im Uebermaß schöner
Gebärden und Klänge, sie war fürchterlich im
Brausen geller Schreie und gewaltsamer Grau-
samkeiten. Vor ihr wurde das Schicksal jener
kleinen Stadt jämmerlich, lächerlich und versank.
Wer dieses Ungeheuer nicht zu beherrschen ver-
stand, war verloren. Stark mußte einer sein,
lachend unbekümmert mußte er einherschreiten,
ein Sieger selbst noch dann, wenn er Besiegter
war. Er war schwach, er war Besiegter selbst
da, wo er Sieger sein konnte, er zergrübelte seine
Träume, bis sie zerfetzt vor ihm lagen. Eine neue
Angst bedrängte ihn: abermals ein Opfer der

Großstadt zu werden. Jetzt zog er ein Weib
mit sich.

. . . Draußen brauste das Leben. Ganz
schwach prallte es durch die Mauern in die hei-
lige Stille. Hier war das schöne Ungeheuer sanft.
Hier konnte ein Müder neue Kräfte in sich auf-
nehmen.

Welch ein Wirrsal! Welch eine Ruhelosigkeit,
die den Menschen verzagen ließ und ihm doch
zugleich die dunkle Freude äußersten Trotzes ge-
währte. Darin lag ihre anpeitschende Kraft, dies
war ihre Schönheit: daß sie voll großer Sehnsucht
war. Wenn einer mit wissenden Augen durch die
Straßen ging oder auf einen hohen Turm stieg und
all das Gewimmel überblickte, mußte seine Seele
knien vor der wilden, weichen Herrlichkeit der
großen Stadt.

Fortsetzung folgt

Zwei Wupperstädte

Paul Zech

Else Lasker-Schiiler zum Geschenk

Die erste

Hier lungern Paläste aus Glas und Granit
zwergzierlich wie Weihnachtskrippen.

Der Himmel fällt grau herab von Schieferklippen.
Immer gähnt schläfriger Tag und ein Regenlied.

Was in den Straßen wie Pulsschlag zuckt,
ist kreisender Schwung von Flechtmaschinen;
beutegierig lauert der Baal hinter ihnen.

Alle Wälder hat der gefräßige Rachen verschluckt.

Aus dem schlängelnden Tintenfluß
giftet das Ausgespiene wie Typhusdünste,
und überflockt die Fabriken wie Ruß.

Die hier gezwungen den Tag vertun,
röhren den Blutschrei entflammter Brünste
und träumen von Lesbos und Averlun.

Die zweite

Schwarze Stadt an schwarzem Gewässer steil-
aufgebaut —

Griinbeliderte Fenster funkeln;
aus dem gespenstischem Schieferdachdunkeln
schnelln Schornsteine von Dampf und Dunst um-
braut.

Hellwild rattert und knattert die Pendelbahn
über Brücken und hagre Alleen.

Fabrik dort unten, wo Spindeln sich kreischend
drehen,

ist grau wie ein müder vermorschter Kahn.

Schweiß kittet die Fugen fest,

Schweiß aus vielerlei Blutsaft gegoren.

Frommsein enteitert dem greisen Gebrest.

Mancher hat hier sein Herz verludert, verloren;
Kinder gezeugt mit schwachen Fraun . . .

Doch die Kirchen und Krämer stehn hat wie aus
Erz gehaun.

La Prose

du Transsiberien et de la Petite
Jehanne de France

Je ne suis pas poete. Je suis libertin. Je
n’ai aucune methode de trävail. J’ai un sexe.
Je suis par trop sensible. Je ne sais par parier

objectivement de moi-meme. Tont etre vivant
est une Physiologie. Et si j’ecris, c’est peut-etre
par besoin, par hygiene, comme on mange, comme
on respire, comme on chante. C’est peut-etre par
instinct; peut-etre par spiritualite. Pangue
Jingua. Les animaux ont tant de manies! C’est
peut-etre aussi pour m’enträiner, pour m’exciter
-pour m’exciter ä vivre, mieux, tant et plus!

La litterature fait Partie de la vie. Ce n’est
pas quelque chose „ä part“. Je n’ecris pas par
metier. Vivre n’est pas un metier. II n’y a donc
pas d’artistes. Les organismes vivants ne tra-
vaillent pas. Je n’aime pas la sueur de mon front
malgre les avis salutaires d’un livre par trop fa-
meux. II n’y a pas de specialisations. Je ne suis
pas komme de lettres. Je denonce les bücheurs
et les arrivistes. II n’y a pas d’ecoles. En Grece
ou dans les geöles de Tsintsin, j’ecrirais tout
autrement. J’ai fait mes plus beaux poemes, dans
les grandes villes, parmi cinq millions d’hommes
— ou ä cinq mille lieues sous les mers en Com-
pagnie de Jules Verne, pour ne pas oublier les plus
beaux jeux de mon enfance. Toute vie n'est qu’un
poeme, un mouvement. Je ne suis qu’un mot, un
verbe, une profondeur, dans le sens Ie plus sau-
vage, le plus mystique, le plus vivant.

La Prose du Transsiberien est donc
bien un poeme, puisque c’est l’oeuvre d’un liber-
tin. Mettons que c’est son amour, sa passion, son
vice, sa grandeur, son vomissement. C’est une
Partie de lui-meme. Son Eve. La cöte qu’il s’est
arrachee. Une oeuvre mortelle, blessee d’amour,
enceinte. Un rire effroyable. De la vie, de la
vie. Du rouge et du bleu, du reve et du sang,
comme dans les contes.

J’aime les legendes, les dialectes, les fautes
de langage, les romans policiers, la chair des
filles, le soleil, la tour Eiffel, les apaches, les bons
negres et ce ruse d’Europeen qui jouit coquenard,
de la modernite. Oü je vais? Je n’en sais rien,
puisque j’entre möme dans les musees. Quant ä
mes moyens, ils sont inepuisables; je suis ne
prodigue.

Le chat domestique a le pelage soyeux; son
echine est souple, electrique; ses pattes sont bien
armees, ses griffes fortes; il saute sur la proie
qu’il convoite. Mais le chat sauvage saute
bien mieux: il ne manque jamais son coup. J’ai
des chats sauvages plein la bouche.

Voilä ce que je tenais ä dire: j’ai la fievre. Et
c’est pourquoi j’aime la peinture des Delaunay,
pleine de soleils, de ruts, de violences. Mme De-
launay a fait un si beau livre de couleurs, que
mon poeme est plus trempe de lumiere que ma
vie. Voilä ce qui me rend heureux. Puis encore,
que ce livre ait deux metres de long! — Et encore,
que l’edition arteigne la hauteur de la tour Eiffel!

. . . Maintenant il se trouvera bien des grin-
cheux pour dire que le soleil a peut-etre des
fenetres et que je n’ai jamais fait mon voyage...

Blaise Cendrars

Druckfehler

In dem Gedicht „Biesenthal in der Mark“ von
Alfred Richard Meyer sind folgende Zeilen zu
berichtigen:

wie eine böse Mutter rote Menschen barsch in

die Betten gewiesen.

sind plapperich ärgerlich.

keifen, doch plustern sich wieder im Traum.

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