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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 4.1913-1914

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Nummer 188/189 (Erstes Dezemberheft)
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Kohl, Aage von: Die rote Sonne
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https://doi.org/10.11588/diglit.27574#0141

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Die rote Sonne

Aage von Kohl

Die Brauen des Generals Noku lagen, dicke
weiße Schrägstriche, über seinen Augen. Es bil-
dete sich immerzu ein kleiner Knoten in seiner
Kinnlade, weil er die Zähne zusammenbiß. Ab
und zu riß er unbewußt an dem Zugel. Das Pferd
kaute immerfort die Stange und scharrte mit dem
rechten Fuß in der Erde, daß das Gras herumflog
und schwarze Erdstreifen bloßlagen.

„Jetzt sind sie am Hügel angelangt!“ sagte der
General mit scharfer Stimme, die man immer
deutlich hörte, auch wenn er leise sprach. Mit
seiner Rechten hielt er das Fernglas vor die
Augen, das schwarze dreieckige Rohr bedeckte
beinahe das ganze Gesicht. Ein blankes Stück
Leder, das am Fernrohr festhing, lag über Mund
und Kinn.

„Ja, da sind sie, gleich da unten!“ antwortete
einer der Offiziere, in unbewußter Höflichkeit ge-
gen den Chef.

Der General starrte nur. Seine Füße in den
Steigbügeln bewegten sich unaufhörlich, seine
Schenkel hatten die Haut auf den Seiten des Pfer-
des in Teppiche verwandelt.

Die Offiziere hielten in einer Gruppe hinter
ihm. Es klirrte immerzu von ihren Säbeln und
Steigbügeln wenn die Pferde sich bewegten oder
auf den Zaum kauten.

Alle, alle starrten sie durch die Fernrohre wie
der General — ein Anblick wie von einer Gruppe
Maskierter — alle sahen sie hin zu jener kleinen
viereckigen Schanze, das Ziel des Kampfes. Sie
lag, in dieser Entfernung, als wäre sie mit einem
Finger in losen Sand gezeichnet. Ein bißchen
vorgeschoben mitten in der bauchigen Linie der
russischen Stellung, eine Nase im Gesicht.

Es führte ein weißer gerader Weg — wie eine
Rampe — hinauf zur Vorderseite der Schanze,
setzte sich hinten fort und verschwand in dem
Schießgraben. Die beiden Seiten der Rampe:
steile beinahe senkrechte Abhänge. Als wäre
diese Schanze ein Tisch,, in die Mitte der russi-
schen Stellung gebaut.

Ein Stückchen unten, am Fuß der Rampe, schob
sich eine lange Wellenlinie vor. Sie machte Halt,
wurde ein bißchen flacher und breiter, weil die
Mannschaft sich auf die Erde niederwarf, und
kleine weiße Rauchwolken stiegen auf: es waren
zwei neue Kompagnien, die die Schanze nehmen
mußten. Sie nehmen mußten, weil sie die
Tür zu der ganzen russischen Stellung war. Sie
nehmen mußten — koste es was es wolle —
weil das Vorwärtsdringen der ganzen Monate
darauf gerichtet war, daß dieses Tages Kampf
zum Siege führe. Sie nehmen mußten, aber
noch nichts erreicht hatten, obgleich der General
Mal auf Mal neue Abteilungen hingeschickt hatte.

Die Rampe hatte nur Platz für ein Paar Hun-
dert Angreifer, immerfort versuchten die Solda-
ten heranzukommen, vergebens.

Drei Mal schon hatte General Noku Order ge-
geben, daß die Schanze genommen werden sollte.
Drei Mal hatten ein paar hundert Mann, rasend,
verzweifelt, zum Aeußersten gehetzt, versucht,
seine Order auszuführen. Drei Mal schon waren
sie zurückgetrieben.

Weil ein vierzehn Meter langer Stachelgürtel,
ganz oben auf dem Abhang, jedes Mal die Kom-
pagnien zum Halten brächte: dann guckten die
Köpfe der Russen über die Brustmauer der
Schanze hervor, und ein Sturm von Stahl ging
verheerend über die Angreifer. Ein Paar Minuten
und nur die Hälfte war noch lebend, sie stürzte
sich zuletzt Hals über Kopf in wahnwitziger Eile
den Abhang herunter. So mußte die Artillerie

einen neuen Angriff vorbereiten. Und von achtzig
Kanonen flog das Feuer, wie ein Vulkan, über die
kleine Schanze, aber die Russen verschwanden
hinter den hohen deckenden Mauern von Erde,
die vor der Brüstung gegraben waren. —

Schon dreimal hatte der General versucht, die
Schanze zu bekommen — und kein einziges Mal
kam der Angriff weiter als bis zu diesem Stachel-
gürtel. Aber davor lagen Haufen auf Haufen
Tote und Sterbende; und immerzu drang von
diesen Massen ein furchtbares flüsterndes Klagen,
das hing in der Luft wie meilenweite angstvolle
Musik. Der Laut füllte das Ohr und bemächtigte
sich aller Nerven. Es ging wie tausend schnelle
Stiche durch das Herz, es stiegen die Haare, kalte
Spitzen, auf dem Kopf.

Zum dritten Mal war der Angriff zurückge-
schlagen, der General hob eine Sekunde mit der
zitternden Hand das Fernrohr, aber seine Augen
waren geschlossen und die Lider zuckten, wäh-
rend das Fernrohr sie verdeckte.

„Leutnant Futo!“ sagte er kurz darauf mit
schneller heißer Stimme — es gab einen Ruck in
den Offizieren, als sie sie hörten. Er starrte
immer noch auf die Schanze, seine Lippen wur-
den ganz dünn und die Winkel zogen sich her-
unter, vor Energie.

Futo bog sich nach vorn, während er die Spo-
ren in die Seiten des Pferdes begrub. Das Pferd
tanzte auf allen vier Beinen — wie berauscht
von dieser Schmerzmusik, die die Luft füllte.
Futo zwang das Tier zur linken Seite des Ge-
nerals.

„Oberst Katama wird noch zwei Kompagnien
gegen diese Schanze setzen. Aber schnell!“ sagte
der General, und seine Stimme war wieder ganz
natürlich — so wie immer — während er jetzt
mit den zehn Worten, zum vierten Mal in zwei
Stunden, auf diesem Platz dreihundert Mann in den
Tod sandte.

„Jawohl, Herr General!“ — Futo grüßte. Das
Pferd hob die Vorderbeine, als er die Zügel nahm,
es wieherte und ein weißer Strich Schaum flog
aus dem Munde. Leutnant Futo bog seinen Kör-
per über zur linken Seite des Pferdes, drehte das
Tier herum, gab ihm lose Zügel und mit einem
gewaltigen Ruck sauste das Pferd davon, den Ab-
hang hinunter und verschwand, man hörte nur
eine Sekunde das schnelle, harte Dunk-Dunk der
Füße.

Aber im Gesicht des Generals wurden die Züge
plötzlich ganz scharf. Er schien mit einmal töt-
lich mager. Man sah die Schatten und die Um-
risse der Zähne auf der Oberhaut.

Kapitän Noku, der Sohn des Generals — er
war gestern Kapitän geworden und heute zum
Stab des Generals versetzt — bog seinen Nacken
zurück und versuchte einen Seufzer zu unter-
drücken, er merkte nicht, daß auch alle Kamera-
den so taten, um ihre Unruhe und Angst zu ver-
bergen. Es war ja nicht nur ein Kampf ihrer
Brigade. Nein, die ganze Armee, die ganz weit
rechts kämpfte — der Laut der Kanonen ging wie
ein Erzgesang durch die Luft — diese Armee hatte
ihre Brigade ausgesandt, um die kleine befestigte
Schanze zu nehmen. Alles hing davon ab, das
kleine befestigte Fleckchen Erde war die Ent-
scheidung des ganzen Krieges.

Ein bißchen nach rechts sah man Leutnant Fu-
to, in einem Bruchteil einer Sekunde, wie eine
Welle, über den Hügel reiten. Kurz danach konnte
man hören, daß die Artillerie Order erhielt, zum
vierten Mal den Angriff des Fußvolks durch
mächtige Salven vorzubereiten. So lange die
Schanze mit Feuer bespritzen, bis man riskierte,
die eignen angreifenden Soldaten zu treffen. Die
Artillerie war hinten rechts gesammelt. Hinter

dem Hügel, wo der General mit seinem Stab
stand. Der dünne graue Rauch ging in Kissen,
Strichen und Windungen nach allen Seiten, man
sah die Mannschaft wie durch mattes Glas. Plötz-
lich wurde es still; die Kanonen schwiegen, als
wollten sie aufatmen und Kräfte sammeln.

Alle Stabsoffiziere hoben ihre Fernrohre.

Das Fußvolk — die zwei neuen Kompagnien —
gingen wieder vorwärts. Die dunkle Linie glitt,
wie eine Welle, schnell den Abhang vorwärts.
Jetzt waren sie am Stachelgürtel angekommen,
und im selben Augenblick sah man die Köpfe der
Russen wie eine dunkle Borte auf der Brüstung
und die Kugeln der Flinten fuhren durch die Mas-
sen. Ein paar Minuten ein wilder vernunftloser
Wirrwarr, in dem Fernrohr sah es aus wie riesen-
große Spinnweben. Die vordersten Soldaten lagen
oder hingen in Mengen über den Spitzen des
Stachelgürtels. Die Nachkommenden suchten
Deckung durch die Leichen, oder liefen herauf und
versuchten auf die Weise durch das Gitter zu
drängen.

Aber das Feuer der Russen fuhr unter die
Menschenlagen. Weniger und weniger bewegten
sich — und der zitternde Schmerzenslaut drang
wieder — gemischt mit hohen scharfen Schreien —
wie die Stimmen der Solisten in einem Chor —
durch die Luft.

Und der General verstand, daß es auch diesmal
umsonst war. Er sank zurück in den Sattel, seine
Hände zitterten wie im Fieber. Die Gesichtszüge
waren auseinandergefallen und um seinen Mund
lag Angst und Grauen — in dem Augenblick ge-
boren, als er sah, wie die letzten Soldaten über
die Leichen ihrer Kameraden krochen, um über
den Stachelgürtel zu kommen. Wie mit einem
Messer geschnitten hatte sich dies häßliche
grauenhafte Bild in seiner Seele festgegraben.

Er hörte nicht, daß die Batterie hinter ihm
im tierischen Geheul wieder Feuer gab. Er hörte
nicht die Schmerzenslaute und das Stöhnen der
Offiziere hinter ihm. Und er sah nicht, daß ein
Regenschauer vorüberging wie ein grauer metall-
glänzender Teppich von Perlen. Er fühlte nicht,
wie seine Kleider durchnäßt wurden, schwer und
klebrig. Eine Granate schlug in die Erde vor
seine Füße. Mit einem Sausen. Wie ein großer
Vogel. Mit Dröhnen barst die Erde, und die Gra-
natstücke flogen summend durch die Luft.

Aber im Gehirn des Generals saß nur das eine
Bild und seine Lippen wiederholten immerfort:
„unmöglich, unmöglich, unmöglich!“

Er hob das Haupt und wollte einen Ordonanz-
offizier rufen. Aber da tritt ein ganz junger
Leutnant vom siebzehnten Regiment an ihn heran.

„Was wollen Sie?“ Der General fragte so
schnell, als wäre nur eine Silbe in dem Satz.

Der Leutnant bog sich vor, sein Gesicht war
von Eifer ganz unbeherrscht:

„Ich melde vom siebzehnten Regiment: Es sind
vierhundert Freiwillige. Sie wollen versuchen.
Gegen die Schanze!" — Seine schmale Brust, wo-
rauf die schwere Bronzemedaille hing, hob sich
heftig von dem schnellen Reiten.

„Vierhundert Freiwillige!“ wiederholte er, ohne
es zu wissen. Die Mütze hatte er verloren, er
merkte es nicht und hielt fest seine Rechte am
Ohr.

General Noku starrte ins Ferne. Wieder wir-
belte es in seinem Gehirn: unmöglich, aber es
muß gemacht werden. Unmöglich aber er will
es machen!

Der lange Leutnant Hinto hob sich in den Steig-
bügeln und zeigte über Kapitän Nokus Schulter:

„Adjudant vom Generalleutnant!“

Nach einer Sekunde war der Adjutant da. Sein
Pferd, schweiß- und schaumbedeckt, stellte sich

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