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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 4.1913-1914

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Nummer 202/203 (Zweites Märzheft)
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Walden, Herwarth: Kunstkenner
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Ehrenstein, Albert: Gedichte
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https://doi.org/10.11588/diglit.27574#0197

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Kunstkenner

Keineswegs reizvoll

Eine Suffragette hat ein Attentat auf ein Bild
verübt. Herr Fritz Stahl, der Fachmann des Ber-
liner Tageblatts beschreibt das Bild fachmännisch:
„Das ziemlich große Bild (etwa 1,25X 1,75 Meter)
zeigt Venus auf einem Lager hingestreckt. Den
Rücken dem Beschauer zugewandt, sieht sie in
einen Spiegel, den Amor vor ihr aufrichtet.“ Das
sieht der Kunstkritiker Fritz Stahl auf einem
Bilde. Es zeigt ihm Venus, einen Spiegel und
Amor. Alles gute Bekannte des Herrn Stahl. Er
kann also mit Genugtuung feststellen, daß die
Herrschaften nicht porträtähnlich genug sind.
„Das Bild ist aus keineswegs reizvollen Modellen
aufgebaut und hat trübe Farben; alle Töne
des Modems kommen in dem Fleische vor.“ Offen-
bar ein lebendes Bild. Nur daß Herr Velasquez
eben nicht den Sinn für Frauenschönheit besaß,
wie Herr Fritz Kunstkritiker Stahl. Man braucht
aber nicht Angst zu haben, daß diese Dame der
besseren Gesellschaft trotz allen Tönen des Mo-
dems krank war. „Vielleicht hat auch die Prü-
derie der Engländerin noch eine besondere Befrie-
digung dabei empfunden, auf den üppigen nackten
Frauenleib loszuschlagen.“ Daß modernde Ueppig-
keit Prüderie erweckt, ist schon eine recht schwer
sadistische Vorstellung. Es scheint sich hier um
ein Bild der gewissen neuen Richtung zu handeln,
die der Abgeordnete Dr. Delbrück vor einigen
Wochen im preußischen Abgeordnetenhaus streng
tadelte. Wenn jetzt sämtliche Gegenstände auf
Bildern sadistisch vernichtet werden, für Spiegel
ist diese Behandlung besonders gefährlich,
wird Herr Fritz Kunstkritiker Stahl sich schließlich
doch noch mit dem Kubismus befassen müssen,
dessen Ecken ihn fortgesetzt abstoßen.

Die ro,

Also in Brüssel ist etwas ganz Außerörckh?t-

• • • * f

liches passiert. Das schreibt unser Brüsseler
Korrespondent des Berliner Tageblatts. „Die
Brüsseler Kunstfreunde konnten eine freudige
Ueberraschung erleben und einen Maler und Bild-
hauer entdecken, dessen Talent bisher nur weni-
gen bekannt war.“ Sicher hat sich wohl die Re-
daktion des sehr geehrten Tageblatts wieder an
Herrn Fachmann Fritz Stahl gewandt. Das neue
Talent aber kannte er natürlich nicht. Er kennt
nur die alten Tanten und Gott Amor. Die Ber-
liner Kunstfreunde hätten allerdings diese freu-
dige Ueberraschung bereits vor achtzehn Mo-
naten erleben können, einen Maler und Bildhauer
zu entdecken, dessen Talent bisher nur wenigen
bekannt war. Ich hatte mir nämlich gestattet,
dieses Talent Rik Wouters im September 1912
volle vier Wochen im Sturm auszustellen. Herr
Stahl kümmert sich erst um die Talente, wenn sie
von unserem Korrespondenten telegraphisch aus
Brüssel gemeldet werden. Seine angestrengten
anatomischen und ethnographischen Studien ge-
statten ihm nicht, sich Kunst anzusehen. Er hätte
allerdings ebensowenig davon wie die Kunst.
Aber die sehr geehrte Redaktion des Berliner
Tageblatts kam auf diese Weise um eine Infor-
mation. Ich dachte immer, daß Journalisten wie
Herr Fritz Stahl dazu angestellt sind, Informa-
tionen zu geben. Aber Herr Fritz Stahl hätte
selbst nicht einmal bei einem Talent in dem Rang
von Wouters Alarm geschlagen. Er hätte sicher
eine falsche Information gegeben. Denn: „So malt
Wouters zum Beispiel ein rotes Frauenbild.“ Wir
wissen alle, oder wenigstens fast alle, daß eine
Frau nicht rot ist. Moderndes Fleisch soll es ja noch
geben. Aber um rotes Fleisch zu sehen, muß man

zu weit gehen. Und so weit geht man nicht mit.
In Brüssel, wo es keine roten Frauen gibt, be-
zeichnet man es als freudige Ueberraschung, wenn
ein Talent eine rote Frau malt. Ich bitte die Leser
des Berliner Tageblatts, soweit sie es lesen, nun
entschieden um Protest. Die öffentliche Meinung
hat ein Recht auf die rote Frau. Sie war unser!
Aber ich kann Herrn Fritz Stahl, der Redaktion
und der öffentlichen Meinung die Reise nach
Brüssel ersparen. Ich habe wieder eine rote Frau
in der Sturmausstellung. Die ist sogar von Franz
Marc, der unendlich viel besser ist als Rik
Wouters. Die sogenannten Berliner Kunstfreunde
lieben freudige Ueberraschungen nicht. Wenn die
Venus nicht erkennbar ist, nützt die ganze Röte
nichts. Die Fachmänner des Berliner Tageblatts
müssen sich aber sehr beeilen, wenn sie die rote
Frau noch sehen wollen. Sie ist vielleicht schon
im nächsten Monat in Brüssel und wird dort dem
Berliner Tageblatt die freudige Ueberraschung
bereiten, die Herr Fritz Kunstkritiker Stahl ihr zu
geben nicht das Auge hat.

Nicht so schnell

Von Bach, der ein Futurist, ja sogar ein Kubist
ist, wurde die Hohe Messe in H-moll gespielt.
Dieses Werk, das zu den großen Kunsterlebnissen
gehört, fand eine Aufführung, die ein Kunstwerk
war. Die Musikfreunde und die Musikkritiker fin-
den Bach erst dann schön, wenn er den Künstler
durch die professorale Manier der Darstellung
langweilt. Die Leute spielen gewöhnlich Bach,
als ob er in der Berliner Meisterschule für Kom-
position gelernt und es schließlich zum Senator der
Königlichen Akademie der Künste gebracht hätte.
So talentvoll war er nicht. Die Leute, die sich
berufsmäßig mit dem espressivo befassen, haben
erstaunlich wenig Ahnung von der Expression.
Sie zählen angstvoll die Takte, trotzdem der Takt
Musik nidht mehr bedeutet, als der Keil-
iahmen für das Bild. Man kann nicht Gestaltenes
wiedergestalten, wenn man die Gestaltung nicht
erkennt. Wenn man das Erlebnis Bach nicht er-
lebt. Karf Straube, der Leiter des Leipziger
Bachvereins, brachte die hohen Wunder der
Hohen Messe zum Tönen. Die Musik verschlang
Orchester und Chor. Nur Bach lebte riesengroß.
Und keine menschliche Stimme wurde durch Bach
so vom Singen fort zur Kunst getragen, wie die
Stimme von Emmi Leisner.

Dann traten die Merker auf. Ein Klavierlehrer
schrieb, daß man Bach nicht so schnell spielen
könne, ihm ging offenbar der Atem aus (Bach ist
nicht für Schwindsüchtige bestimmt). Ein Kom-
ponist konnte die Kontrapunktik nicht erkennen,
weil es ihm gleichfalls zu schnell ging. Sie macht
ihm offenbar auf dem Papier mehr Spaß. Einem
Berufskritiker (ein trauriger Beruf) war sie zu
katholisch, dafür einem anderen Herrn zu evan-
gelisch vorgeführt. Das hat man davon, wenn
man in Berlin Kunst macht. Ordnung muß sein.
Ich warne Neugierige.

Schon wieder ein Futurist

Wer sich ordentlich ausschlafen will, gehe in
ein Berliner Konzert. Trotzdem diese blöde Mu-
siziererei von tüchtigen Handwerkern fast den
Schlaf vertreiben kann. Es gibt tatsächlich noch
Ohren, die sich stundenlang Saint-Saens, Viotti,
Beriot und Genossen anhören können. Ohren, die
bei dem Violin-Konzert von Mendelssohn fast
aus dem Kopf springen. Wird wirklich einmal ein
Komponist aufgeführt, der wenigstens aus dem
Schlaf erweckt, machen die Leute die Ohren zu
und kriechen vor Schreck unter die Bänke. Man
zischte in der Philharmonie, als das Konzert Opus
45 von Paul Juon gespielt wurde. Das Zischen

bedeutet bekanntlich in nicht gesellschaftlicher
Form Bitte um Ruhe für Schlafende. Ein Vater
stellte sich angstvoll vor seine Familie und erklärte
laut: das ist uns zu futuristisch! Der gute Mann
war zweifellos ein Leser des Berliner Tageblatts,
der sich von Herrn Fachmann Fritz Stahl über Fu-
turismus hat aufklären lassen. So schreitet die
Bildung fort und so leicht kann man heute für
einen Futuristen gehalten werden. Man ist heute
schon Futurist, wenn man Totes für tot und Leben-
des für lebend hält. Wie soll die Zukunft erst wer-
den, wenn wir Lebende erwachen.

H. W.

Gedichte

Albert Ehrenstein

Anbetung

I

Der W'eiber Fjord, den süßen,
häb ich lang entbehren müssen.

An Nehmerinnen des Goldes,
den Gütig-Käuflichen nehme ich Schaden,
Seele will nur bei Seele zu Gaste sich laden.
Mich ekelt der gröbliche Zeitvertreib
mit einem Krummholz-Bauernweib.

Lieber will ich an dir, der sehnsuchtschlanken
Prinzessin von Byzanz,
hilflos erkranken.

II

Am Ufer zagst du wellenlüstern
in der Furchen Furcht.

Wenn dein Lichtgesicht

der Stromwind anfährt,

bist du die Flucht vor der Frucht,

vor dem Wasserberg,

der deiner Knöchel Heiliges Land

nagend beragt.

III

Lügen sitzen auf mir.

In deinem Körper möchte ich baden.

O du blaues Glockenblümchen,

Scbwälbchen, Hühnchen, Goldfasänchen,
sei du meine Ueberzeit!

Wohnen will ich in deinem jungen
Forste.

Inbrunst, deine frischen Beine
zu überschatten!

Und ihr Laub ist liebes Lager.

IV

Schön ist’s, ein Mädchen zu schwellen.
Heilung spendet ihr wachsender Leib,
und eine gute Unsterblichkeit.

Tod-krank ist der Mensch, -
rasch überspült die Sturzflut,
die Zeit
seine Gestade.

Geht aber ein Mann ein
in den süßen Waldwinkel,
überstirbt sein Schatten in Kindern
den Abendgang.

Ausfahrt

Smaledumen, der Held, durchschritt den im

Herbstfeuer

rotbraun brennenden Wald,

unten wand sich besiegt der durchmessene Fluß,

die silberne Blindschleich.

Aber gallig schwarz 'anlief seine weiße
Wendeding-Lanze und krächzte:

202
 
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