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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 5.1914-1915

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Nummer 8 (Zweites Juliheft 1914)
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Walden, Herwarth: Der Mittelaltermeister
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Stramm, August: Die Menschheit
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https://doi.org/10.11588/diglit.33880#0062
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Der Mittelaltmeister

Weß Brot ich esse, dessen Lieder ich besinge.
„Denn nicht mehr ganz ohne Lohn ist nun die
Arbeit auch des überfiüssigsten aiier Zeitgenos-
sen, des ernsten deutschen Komponisten." Der
ernste deutsche Komponist hat 89 Mark 11 Pfen-
nig Jahreseinnahmen bekommen. Dank der Qe-
nossenschaft deutscher Tonsetzer, in der „er die
deutschen Komponisten gewerkschaftiich organi-
siert hat". Er, der Herriichste von aiien. Er,
der Meister. Er, das fünfzigjährige Qeburtstags-
kind. Er, der Richard Strauß. Strauß dem
Strauß. Nun windet ihm den Lorbeerkranz mit
veiichenbiauen Worten. Wiiheim Mauke, der
ernste deutsche Komponist, macht ein Kiamauk,
die Zeit im Biid häit Maukes Biider fest. Nein,
das ist ein gaz toiier Künstier, der Richard Strauß.
Ais Christus fing er an, äis Moses hört er noch
nicht auf und die Propheten reißen sich bei dieser
Musik um ihre Sehergabe. Doch fangen wir mit
Mauke historisch an. „Der europäische Musiker
— kaum Wedekind, Reinhardt und Pegoud über-
treffen ihn an Ruhm — entstand aus einer Kreu-
zung von aitem münchener Bieradei mütteriicher-
seits und praktischem Antiwagnerianertum väter-
lich." Der Bieradel ist keine Schnapsidee, aber
die Kreuzung mit der Bierbourgoisie, dem prak-
tischen Antiwägnerianertum, iieß etnen Reis ent-
stehen, der sich naturlogisch mit künstiicher Be-
mühung zu unserm fünfzigjährigen Strauß ent-
wickelte. Nicht einmai zwei Städte brauchen sich
um diesen Reis zu reißen. Dieser gesunde Bier-
junge kounte nur in München geboren werden:
„In dem bescheidenen Pschorrhinterhaus am
christkathoiischen Aitheimereck in Ait-München.
Das Bethiehem der neuen Musik!" Der beschei-
dene Stail und das bescheidene Pschorrhinterhaus.
Auch der Bieradei hat es nicht mehr leicht. Seibst
Pschorr fängt än zu siechen. Musik hilft drüber
weg. Die Tochter Pschorrs läßt sich das Wald-
horn blasen. Im stiiien Kämmerlein des Kammer-
musikers Strauß blüht neues Leben und im Beth-
lehem der neuen Musik wird ihnen Richard ge-
boren. Und nun gehts los: „Qymnasium, Hol-
landeum, Kgl. Kontrapunkt-Fabrik am Odeons-
piatz ( — jetzt gibts dort n e u e Kunst —) gleich-
zeitig philosophische KoIIegs an der Universität;
Liszt's Weihekuß auf die Stirne" (— als verspä-
teter Ersatz für die heiligen drei Könige —) und
so weiter, und so weiter, „Eingreifen Alexander
Ritters, des treuesten der treuen Wagnerianer
als Mentor Jung Richards" und so weiter, und so
weiter, „der Enkel Spitzwegs, der Münchener
Verleger Eugen Spitzweg wagt als erster Kom-
positionen des feurigen Revolutionärs und Um-
stoßers alter Qesetzestafeln zu verlegen (was spä-
ter für Herrn Fürstner keine Kunst mehr war)."
Wobei nicht ganz klar ist, ob für Herrn Fürstner
die Kompositionen des Jung-Moses keine Kunst
mehr waren, die der Konkurrent schon verlegt
hatte, oder ob Herr Fürstner die Kompositionen
für keine Kunst mehr hielt, die er von dem älteren
Umstoßer verlegte. Und nun nach diesen ver-
schiedenen religiösen Metamorphosen begann der
Jungmeister Richard Strauß zu singen, „der junge
überquellende Liederdichter, aus dem der Lenz
nicht nur, auch ein heißes Qlücksgeftihl des
Schaffens und ein dionysisches Jubeln sang".
Nach der Singerei kam „Pauline, die energisch-
treue Qattin". Aber es kam immer besser:
„nächst dem Lied, dessen Qrenzen er durch Hin-
einziehen des sozialen Moments zeitgemäß erwei-
tert hat, hat der Jubilar auf dem Qebiet der sym-
phonischen Programm-Musik Werke von bleiben-
den Wert und vorbildlicher Bedeutung geschaf-

fen." Erst gesungen und dann geschafft. „Bis
dahin unerhörte Kunst der Tonmalerei, die wohl
realistisch vorgeht und detailliert . . . Individua-
lisierung und E r I ö s u n g der einzelnen Orchester-
instrumente zu selbständigen Persönlichkeiten."
Die Pauke wird erlöst und die Windmaschine und
die Ruten äußern sich höchst persönlich. Bis
schließlich noch „ein ganzer Komplex half zum
Welterfolg, dem Durchbruch jener schwereichenen
Barrikaden, die den Künstler von der Welt tren-
nen." Der Komplex ist etwas kompliziert, aber so,
daß tout le monde sich nicht mehr von dem Herrn
Künstler getrennt fühlt und sogar der Tonsetzer
mit den 89 Mark und 11 Pfennigen etwas bitter
wird. Der Komplex heißt: „Die Bibel, Oskar
Wilde, die Konjunktur der Hysterie und perversen
Erotik, der Feminismus und Semitismus der groß-
städtischen Seele, Max Reinhardt, Hofmannsthal,
Berliner Großindustrielle, die Presse, der Antike-
rummel im Zirkus, der Wienerwalzer, die Ver-
wechslung von Oskar Strauß mit Richard." Der
KoMege Mauke vergißt reineweg die Jubelstim-
mung über den Komplex. Jedem ist nicht solch
ein Komplex gegeben. Aber Richard Strauß, „der
Organisator", versteht es. „Er weiß, daß er die
Presse um den kleinen Finger wickeln kann." AIs
Richard Wagner lebte, war der Holzbock vom
Lokal-Anzeiger zwar schon geboren, aber noch
nicht von Scherl berufen. Von Richard Strauß
wurde er auserwählt, um das deutsche Volk in
die Pläne des Mittelaltmeisers einzuwickeln. Nur
die alldeutsche, echtpreußische Presse funktio-
nierte noch nicht. Sie glaubte offenbar dem Mit-
telaltmeister die Reinheit des Rassebieradels nicht.
Und jetzt endlich erfährt das erstaunte Volk vom
Biographen Mauke, warum Strauß den Rosen-
kavalier schrieb: „Des Vorwurfs rassereiner Kri-
tiker betr^ ewigen Semitismus und Femints-
mus satt, stellt Strauß also im Rosenkavalier end-
lich einen Mann in den Vordergrund. Den Ochs,
enen unverdächtgen arischen Rüpel von primitiv
maskuliner Männlichkeit." Sowie die rassereinen
Kritiker die maskuline Männlichkeit im Vorder-
grund sahen, übersahen sie die Frau und
das Bett im Hintergrund. Diese beiden wur-
den nach der Logik des Biographen Mauke
aufgestellt, um auch weiterhin die semitische
und feministische Presse um den kleinen
Finger wickeln zu können. Hoffentlich haben sich
die rässereinen und die rasseunreinen Kritiker
bei dem gemeinsamen Qekrabbel um den kleinen
Finger nicht zu sehr gegenseitig gestört. Es ist er-
reicht, heil dir im Lorbeerkranz, er steht auf dem
bekannten Qipfel, eigenem und hypothekenfreiem
Besitz, das Betreten des Grundstücks ist nur dem
Holzbock und vielleicht von nun ab auch dem
Mauke gestattet, der also erschüttert und er-
schütternd schließt: „Von der Höhe seiner fünfzig
Jahre darf dieser schlanke, elastische, von Win-
tersport gebräunte, (— es wird einem blau
vor den Augen —) von intensiven Lebensgenuß
beschwingte, in beiden Welten beheimatete Jüng-
ling (— schier fünfzig Jahre bist du alt —) im
schütteren Lorbeerkranz, Einsüedler und Qlobe-
trotter zugleich, mit stolzem Lächeln auf seine
Erfolge und Taten blicken." Hoch von der Höhe,
iloch, hoch ihm, Riccardo Strauß, Ritter pp. hoher
Orden, Doktor der Philosophie, Obergeneralfeld-
marschallmusikdirektor, Meisterschaftsbobsleigh-
fahrer. Durch Nacht zum Licht. Ueber Land
und Meer. Nord und Süd. Ost und West. Kunst
und Künstler. In vorzüglicher Hochächtung.

H.W.

Die Menschheit

August Stramm

Tränen kreist der Ramn!

Tränen Tränen
Dunkle Tränen
Qoldne Tränen
Lichte Tränen
WeMen krieseln
Glasten stumpfen
Tränen Tränen
Tränen
Funken

Springen auf und quirlen
Quirlen quirlen
Wirbeln glitzen
Wirbeln sinken
Wirbeln springen
Zeugen

Neu und neu und neu
Vertausendfacht
Zermilliont
Im Licht!

Tränen Tränen
Tränen Funken
Augen schimmern
Augen Augen
Nebeln schweben
Tauchen blinzeln
Saugen

Schwere schwere

Blinde

Tief

Hinunter
In die Nächte
Reißen
Schaun!

Schatten dampfen

Weiche blasse

Fließen fließen

Wallen wogen

Hart und härter

Runden Formen

"Ungetüme

Ungestüme

Ungefüge

Leiber

Leiber

Walzen wälzen
Stalten sondern
Einen fliehen
Zeugen schwellen
Tummeln starren
Fliegen stürzen
Stürzen stürzen
Stürzen stürzen
In

Den

Schrei!

Mäuler

Qähnen

Qähnen klappen
Klappen schnappen
Schnappen
Laute

Laute Laute
Schüttern Ohren
Horchen Horchen
Schärfen Horchen
Schwingen Schreie
Töne Töne
Rufe Rufe
Klappen Klarren
Klirren Klingen
Surren Summen
Brummen Schnurren

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