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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 5.1914-1915

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Nummer 15/16 (Erstes und zweites Novemberheft 1914)
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Essig, Hermann: Ein Weltereignis
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Kohl, Aage von: Der Weg durch die Nacht [19]: Roman
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https://doi.org/10.11588/diglit.33880#0113
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sei&em Sandhaufen sitzt und —-! war der An-,

bHck.

„Das geht aber einfach," rief Frau Stange.

Die Maus fraß nur nach dem Ereignis die Blut-
Me vom Jungen ab und beleckte es. So ging es
^änfmal. Es war das ,appetit!ichste' Spektakuium
Äin Stangeschen. Den Kindern war das Ereignis
idurchaus so am verständüchsten, um so mehr, a!$
iJie Andeutungen, daß es beim Menschen gerade so
gehe, nicht fehiten.

Mit der Zeit fiel es iedoch auf, daß die Jungen
sich gar nicht rührten. Man schritt zu ihrer näheren
Untersuchung. Da ergab sich, daß Trautes Kieinen
aiie erst haib entwicke!t und sie sämtiich Fehlge-
burten waren.

Da schmeckte das Essen denn doch nicht mehr
recht in der Nähe dieser Kindsleichen. Jedoch hieit
Herr Stange es für ganz faisch, sich den Appetit
verderben zu iassen, sondern erkiärte vieimehr,
-daß dies ganz einfach „eine Frühgeburt sei, weiche
Erscheinung auf die Ouetschung der Maus durch
den Deckei der Faiie zurückzuführen sei — wie
bekanntiich auch beim Menschen, wenn Ungiücks-
iälie usw. .

Es schmeckte nach solcher Offenbarung zwar
nicht besser, immerhin konnte man wenigstens die
Maus abtragen, denn die medizinische Wißbegier
war vollauf befriedigt. Das Theater war für die-
sen Abend gänzlich überflüssig geworden.

Traute beschäftigte sich mit Aufräumuugsarbei-
ten, die Jungen stopfte sie unter die Holzspäne,
welche man ihr ins Glas gegeben hatte. Nur das
Erbärmlichste von ihnen ließ sie in seinem embryo-
nalen Aussehen an dem Kand des Glases kleben,
wahrscheinlich zum Hohn der Beschauer.

Mühselig und geschwächt kletterte sie herum,
so daß sie Erbarmen genug für sich erweckte, sie,
die arme Mutter, nicht den Tod durch Ersäufen
sterben zu lassen wie den Herrn Gemahl.

Dieser Maus, die man leiden gesehen hatte,
mußte die Freiheit geschenkt werden. Für sie war
die Freiheit ein Kecht geworden, lautete der Be-
schluß der menschlichen Gesellschaft.

AIso gut. Fräulein Stange wurde beaüftragt,
den Inhalt des Einmachglases auf die neue Rasen-
pflanzung der Parkstraße auszuschütten. Dreivier-
tel neun Uhr, es war schon Nacht geworden, stieg
sie mit Wonnegefühl hinab, Jemandem, wenns
auch bloß eine Maus war, die Freiheit schenken zu
dürfen.

Vom hohen Balkon schauten die anderen hinab.

Jetzt schüttelte sie,! sofort rannte die Maus
davon, weg von ihren Frühgeburten.

Aber was wars!

Eine Katze!

Niemals war sonst hier eine Katze zu sehen.
Jetzt war sie da, aus dem Bauzaun herausgekom-
men wie von der Vorsehung hierhergesetzt, die
Maus, für die voll Großmut die Freiheit präludiert
war, zu haschen.

Die Katze trug die Entbundene im Alaul in den
Neubau hinein, ihr dort den Garaus zu machen,
und so die erste Leiche dort niederzulegen.

Nur noch mit schwachen Zuckungen seufzte
Traute das letzte Gedenken an die schöne Flitter-
zeit einst mit Artur samt den dabei gehegten Hoff-
nungen.

Es war vorbei.

Am nächsten Morgen zogen die Besenweiber
auf, den Rasen zu kehren. Eine von ihnen klaubte
das Holz, worauf die Maus geboren hatte, in ihre
Schürze. Vielleicht wurde auf dieses Holz später
noch ein Zuckerhase geklebt, da das Brettchen
schon einmal r o t war.

Dann kehrte das Weib den Rasen, und die
Mäusebrut spritzte vom Besen in den Rinnstein der
Straße.

no

Herr Stange philosophierte darüber, ob es Zu-
fall war, daß hier die Katze dem MenschenwfHen
in die Quere kam, oder ob die allgemeine Welt-
weisheit hier gescheiter gewesen sei als der
Mensch.

Wenn die Herzen dieser Mauseleben auch
wirklich für einanderschlugen, so war dieser Aus-
gang diesmal das Beste.

Der Weg
durch die Nacht

Roman

Aage von Kohl

Furtsetzunx

Er war dort an der Tür stehen geblieben, mit
schweißtropfender Stirn, heftig atmender Brust
in allen Fibern zitternd von einem brennenden
Durst, alles auszurichten, wovon er jetzt endlich
eingesehen hatte, daß er es tun mußte!

Er stand da, den Oberkörper ein klein wenig
vornüber gebeugt, einen lauernden Blick in seinen
Augen, mit hart geballten Fäusten —:

Karl Mumme!

Wohlan, ietzt handelt es sich um dich und um
mich!

Hast du es gehört, auf Tod und Leben fordere
ich dich hier!

Heute treffe ich dich mit der Vergeltung für das
Entsetzliche ,was du an Ihr getan hast und an mir!

Er erhob mit einem Ruck die beiden Arme,
warf den Nacken zurück, mit weit aufgerissenen
Augen . . . und da erlebte er auf einmal, mit einer
Heftigkeit, als sei es sein eigenes Fleisch und Blut
selbst, als seien es seine eigenen Sinne und Ner-
ven, sein eigenes Herz und Gehirn, gegen die dies
alles ausgeführt wurde — erlebte er das, was
Annie an jenem Abend vor zwei Jahren hatte er-
leiden müssen:

Siehe!

Mein Gott —:

Er sieht in eigener Person, unsichtbar, unhör-
bar, wie ein Schatten — vor dem niedrigen, gelben
Haus der Eisenbahnstation, auf dem Bahnsteig,
wo die beiden flackernden Laternen brennen, und
sieht Sie aus dem Zug springen — der da hält,
lang, kohlschwarz, mit dem fuhkendurchzogenen
Rauch, der an dem Dach der Wagen entlang wogt.

Er sieht sie in den Schein hinaustreten, schlank
und aufrecht, in ihrem weißen Kleid mit der schö-
nen, gelben Tasche an ihrer linken Hand — leuch-
tend in dem unsicheren Schimmer mit der Pracht
eines Sonnentages.

Er erblickt den Assistenten, groß, schmalschult-
rig, in seiner dunklen Uniform mit Goldknöpfen —
mit seinem lächelnden, jungen Gesicht, sich den
kurzen Bart streichend — er tritt auf sie zu, ver-
neigt sich, macht die Honneurs, nimmt ihr die
Fahrkarte ab, stammelt gleichzeitig ein paar ehr-
erbietige Worte. Sie nickt freundlich und kurz, geht
hastig und schweigend vorüber — sie hat offenbar
Eile, sie will schnell nach Hause, es ist ja schon
spät, die Uhren dadrinnen bei ihren Eltern gingen
verkehrt, sie kam nicht rechtzeitig zu der Ietzten
Straßenbahn, war infolgedessen gezwungen, mit
diesem Zug zu fahren — und eilt deswegen jetzt
dahin! sie sehnt sich heiß und froh, nach Hause
zu koinmen, sie weiß ja auch, daß Glaß den ganzen
Abend allein gesessen hat, daß er jetzt, vielleicht
in dieser selben Sekunde, zu der Haltestelle der
Straßenbahn hinabgegangen ist, um sie zu holen,
er wird unruhig werden, weil sie nicht da ist —
ach Gott, und es sind so viele, viele Stunden her,
seit sie einander gesehen haben!

Qiaß Mortons Herz pocht — während er da-
steht, körperlos, wie ein Phantom, ganz dicht hin-
ter ihr, so nahe, daß er die Wonne empfindet. das
zarte und blonde Aroma zu spüren, das ihrem
Haar und ihrer Haut entströmt — sich bemühend^
daß sie ihn erblicken, daß sie wenigstens seine
Nähe ahnen soll! Er ist zugleich unsagbar glück-
selig und gräßlich ängstlich, ihm schwindelt vor
Glück bei dem Anblick ihres Antlitzes — und &r
ist grenzenlos bange, er weiß selbst noch nicht
weswegen!

Aber sie hat ja Eile!

Sie ist schon durch die kleine, dunkle VorhcHe
gelangt — ist aie drei Iangen, grauen Steinstufen
unter der Laterne der Fassade hinab gegangen,
hat die Station verlassen.

Sie eilt nun dahin, ach Gott, mit aiesen Schrit-
ten, die er iiebt, deren Laut ein Fest, deren Takt
ein Rausch, deren Rhythmus von Frau und Jugend
und Eile eine Seligkeit für Gedanken und Sinn
ist — sie eilt jung und froh dahin, sie starrt spä-
hend in die Finsternis hinaus, sie grübelt mit einem
wunderbaren Lächeln über die Möglichkeit nach,
er könnte vielleicht erraten haben, daß sie diesen
Weg kommen muß — und plötzlich fährt es ihr
wie ein Stich durch das Herz, daß sie nicht daran
gedacht hat, ihm von da drinnen aus der Stadt
zu telephonieren, mit ein wenig Glück hätte sie es
doch möglicherweise erreichen können — im Laufe
der paar Minuten, die sie noch daheim bei ihren
Eltern hatte, nachdem sie entdeckte, daß die Stra-
Benbahn schon abgegangen war! — Aber gleich
darauf vergißt sie dies von neuem, es verschwin-
det alies in dem Bewußtsein, binnen ganz kurzem
sich lachend und entzückt und dürstend in seine
Arme stürzen zu können!

Und er — er, der ihr lautlos folgt, berauscht
von dem Tanz ihres Ganges und gleichzeitig die
Brust zusammengepreßt von dunklen Ahnungen,
wegen irgend etwas, er weiß selbst nicht
was — er denkt nur an eins: ja, ach, wenn sie
doch auf alle Fälle von der Station aus jetzt eben
noch ihn angeklingelt hätte — oder wenn er doch
jetzt auf einmal diese Ketten sprengen könnte,
mit denen er gefesselt ist! dieses Gewand von Un-
sichtbarkeit, in dem er wie in einem Käfig gefan-
gen ist — ach, Gott gebe, daß er es ihr klar machen
könnte, daß er hier ist und ihr rät, so schnell wie
möglich umzukehren, denn dann wird er sie selbst
von zuhaus her anrufen! oder wenn er plötzlich
zu Fleisch und Blut werden, ihren Arm nehmen
und in den seinen legen, in Fleisch und Blut mit
ihr dahin wandern könnte! aber nein, er kann das
nicht, er rast, er zerrt an den unsichtbaren Ban-
den, er ruft und schreit mit lautloser Riesenstimme,
um sie zu warnen: Kehre um, Annie, hörst du, be-
eile dich, kehre wieder um! Annie, es ist der letzte
Augenblick: kehre um . . . aber sie versteht es
nicht, hört es nicht, fühlt es nicht!

Nein, denn sie eilt beständig schneller heim-
wärts! Sie ist schon an den ersten acht oder neun
Laternen hinter der Station vorüber, erreicht jetzt
die nächste — und beeilt sich dann noch mehr!

Ja, sie geht nicht!

Nein, sie läuft.

Sie fliegt!

Und Glaß — der zuerst überwältigt worden ist
vor Wonne über ihre Eile! der für einen Nu bloß
dies eine bedenkt, daß sie, je mehr sie sich beeilt,
um so früher nach Hause kommen wird! je schnel-
1er sie dahineilt, um so eher wird er sie unbe-
schädigt in seine Arme schließen können — Glaß
fängt auf einmal an zu ahnen, daß da etwas ande-
res sein muß! Wie, wieso — sein Brust wird kalt
—: dann war es also richtig, was er vorhin fürch-
tete, ist auch sie jetzt bange geworden, ist da
 
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