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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 8.1917-1918

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Fünftes Heft
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Ernst, Max: Vom Werden der Farbe
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Citroen, Paul Roelof: Marc Chagall
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Striepe, Kurt: Maya
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https://doi.org/10.11588/diglit.37114#0074
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Das Sein der Farben ist einander, gleichzeitig, gegenzeitig. Zeit
überwindet sich durch Sein Einer Farbe als Grund aller Farben.
Raum schrumpft. Sonne, Bogenmond und Sterne sind beteiligt.
Die gelbe Kugel nicht ferner als Stern und Delaunay. Deshalb
baute der Ingenieur einen Turm zu Babel. Der funkt von Paris
bis nach New-York. Ad Astra. Durch die astrale Landschaft
fährt der stolze Biplan.

Marc ChagaH
i
Bei aufgezogenem Vorhang sieht man links oben einen
Großstadtprospekt. Daneben nach rechts Bäume, ein gewun-
dener Waldweg, ein Wasser, Ausblick in einen Park. Rechts
ein Schulzimmer im Querschnitt. Am Fenster nach außen (also
ins Bild hinein) schwebt an einem Balken ein Erhängter. Auf
dem Katheder in die Klasse blickend der Lehrer, vor sich ein
Maschinengewehr, das er mit den Händen bedient. Die Bänke
sind von Knaben und Mädchen gefüllt, einige liegen tot vorn-
über auf ihrer Bank, einige hintenüber. Die andern sitzen im
Starrkrampf, alles ist bewegungslos. Vorn links bemühen sich
zwei Jungen eine gelbe Scheibe, den Mond, auf einen Berg zu
rollen. Hinter dem Gipfel steht die Sonne. In der Mitte des
Bildes geht ein Mädchen auf und ab. Ihr Leib ist aus Glas und
an der Stelle des Herzens sitzt ein Papagei. Die linke Seite
füllt ein riesenhafter Kinematograph, der gekurbelt wird und
alles aufnimmt. Zwischen dem Stadtprospekt und der Sonne
steht eine 14 in arabischen Ziffern und darunter einen Halbkreis
beschreibend in lateinischen Lettern: Jahre.
Wenn die Spannung nachläßt, tritt der Direktor an die
Rampe und gibt an das Publikum eine Erklärung ab.
H
Die Jugend. Chagall geht durch die Straße und die Straße
dreht sich. Die Fenster kommen von oben herunter, die Häuser
verkehren sich, die Bäume fliegen in die Luft, die Steine tan-
zen und sinken dann in den Boden. Ein Hund, Balkongitter,
Cafes stehen an ihrem Fleck, als der Hund anfängt zu laufen.
An der Häuserfront empor bis in die erste Etage. Dort ver-
schwindet er, ein Fenster steht offen. Kleine Vögel fliegen
durch die Wohnungen und die Menschen liegen meist wie tot
auf der Erde, oder sie laufen, kommen aber nicht von der Stelle.
Darüber wundert sich niemand, sagt Chagall. Zwei Mädchen-
zöpfe gehen im Zickzack, zwei Beine trippeln, Chagall verliebt
sich im Augenblick; ein Donnerschlag fällt hinein. Es wird
ganz schwarz. Noch schwärzer, daß man garnichts mehr sagen,
denken oder glauben kann. Da steckt Chagall ein Rot an, das
sich röter ausbreitet. Wird immer größer, frißt das Schwarz.
Bis nur ein Fleck rechts oben bleibt. Chagall lacht herzlich
über den kleinen schwarzen Fleck. Ein Baum wächst auf und
blüht, so daß er in einer Nacht ganz grün hängt. Wiesen wer-
den herangerollt und so ist es ein freier Platz. Der Lehrer,
lacht das Mädchen. Das läutet eine Glocke oder es sind Kühe,
die weiden. Chagall sieht alles und malt es. Alles sind Heiligen-
bilder, obgleich ganz profane Sachen vor sich gehen.
111
Kunst. Wie lächerlich. Das ist ein Gegenstand. Ein
ganz festes Ding, das ich in die Hand nehme. Ich halte es fest,
Was Streiten. Was Menschen, Wissen, Streiten, Kunst. Da.
Hier. Ich schmeiße sie zwischen sie, daß es kracht. Ueber die
Kunst. Hier, ich gebe sie Dir, da hast Du sie, schreibe darüber,
wenn Du willst. (Aber mich laß.) Dummköpfe, Dummköpfe.
Malen, malen, malen. Da, da, da. Rot, rot und blauer Kopf,
gt-iine Mütze, schief, Kopf fliegt ab — da Rumpf biegt, beugt,
blau natürlich, blau natürlich, Hand in Bogen, rosa Tisch, ab.
Bein, Huhn, Hühnchen, Samowar, Samowar, kocht, rot, leckt,

dampft, verhüllt, in Rauch, rosa, rot in blau, violett, grün. Sieh,
sieh, sieh, da. — Aber Kunst. Habe ich sie nicht, halte ich sie
nicht. Ist sie kein Gegenstand. Ja, ja ein Gegenstand. Ich
koche, ich halte Kunst. Wie der Soldat. Wie den Soldaten
am Samowar.
IV
König Chagall will die Stadt bauen. Ich baue die Stadt —
Still! Kein Laut! Ich baue die Stadt. — Stille! Knecht: Drei-
tausend Mann sollen unter Gewehr treten. Wer noch ein Wort
spricht, wird erschossen. Wer den Mund auftut, kommt in die
Gefängnisse. — So muß man ihnen kommen, mit Maschinen.
Nur so.
Ich baue die Stadt. Die Baumeister vor. Die Pläne her. —
Knecht: Alle Baumeister sind abgesetzt. Sie werden von heute
zur Straßenreinigung herangezogen. Zwanzig Mann tragen die
Pläne in meinen Ofen. Ich baue die Stadt. Die Künstler vor.
Eure Gedanken! — Knecht: Diese verlassen sofort das Land.
Ich baue die Stadt. Wer spricht? Ich spreche. Gut so.
Ein Haus. Nein, zu wenig. Eine ganze Straße. Nein, zu wenig.
Eine Stadt aus Straßen von Häusern. Knecht: Dreitausend
Pflanzer sollen alle Bäume in den Straßen und Anlagen aushe-
ben. Dreitausend Eisenbahnwagen sollen die Bäume weit vor
die Stadt bringen. Man soll sie ringsherum eingraben. Keine
Pflanzen in der Stadt. Steine. Es soll ihnen vergehen, in der
Stadt zu wohnen.
Steine und Räume. Räume aus Stein. Nur Stein. Nur
Raum. Nur Stein. So jetzt wissen sie. Nur Raum.
Knecht: Die dreitausend Mann sollen wieder abtreten.
Sage ihnen, ich bin vom Thron gestiegen. Ich gehe und kaufe
ein Stück Land weit vor der Stadt, um es zu bearbeiten.
Paul Citroen

Maya
Kurt Striepe
Maya — ja Ihr Herz will ich sehen! O — Ihr Herz muß
wundersam sein. Eine große Blüte. Blaß, grün. Ihr Herz ist
eine keusche Tulpe. Auf Mauern erblüht. Kein Mensch darf
sie berühren. Sonne spielt lockende Spiele mit Ihrer Pracht,
Ich will meine Hände abschlagen lassen und die Füße —
daß ich nicht weiterkann zu den Wundern Ihres Herzens. Und
es tasten. Nur schauen. Andächtig schweigsam. Trinken.
Schlürfen. Rausch schlürfen mit vollen Zügen und dann ver-
bleichen. Daß noch etwas Blühen über meinen Tod kommt.
O Maya — Ihr Herz! Ob ich es noch einmal sehe? Ob
ich Sie noch einmal sehe?
Mein Herz sprang aus mir. Polterte Straßen entlang.
Schreien der Menschen. Fluchen. Stoßen. Haschen. Sprin-
gen über Gitter. Durch Häuser. Wälder. Vögel. Singen. —
Dann kam es ans Meer. Bohrte sich tief in das grüne Meer.
Flutete tiefer. Immer tiefer. Weiter. Tiefer. Liegt an der
tiefsten Stelle des Meeres. Pochen — Wogen — Wallen. Seit-
dem rauscht das Meer. Ich gehe ohne Herz durch die Welt.
Ich bin ohne Herz. Ich lebe nicht mehr. Ich will das von mir
abstreifen. — Dies Leben und Menschsein.
Ich will-O, ich will kein Knecht sein! Ich will nicht
mehr leben. Ich will das mit starkem, trotzigem Lachen ver-
achten lernen.
Ich habe keine Angst vorm Tod! Aber Ihr — Ihr Men-
schen. Und darum lebt Ihr!
Der Tod ist ein Knecht. Ein ganz gewöhnlicher Knecht.
Ich bin sein Herr. Er steht bei mir in ärgerer Frohn — als Ihr
untereinander. Ich bin Herrscher —!
Maya — meine Hände sind so matt geworden. Und meine
Augen so müde. Mein Gesicht hat keinen Spiegel mehr.

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