sind keine Gesetze der Kunst. Sie sind Ge-
setze, die wir an einzelnen Kunstwerken ab-
lesen. Sie sind für diese Kunstwerke Gesetze
der Gestaltung. Sie sind erste Grundsätze,
nach denen die Gegenwart Gesichte gestaltet
hat. Die Grundsätze selbst sind erste Ge-
stalten, die sich im Gesicht künden. Es
scheint, als ob die aufeinander folgenden
Generationen der Gegenwart immer tiefer in
die Welt der Gesichte hineingezogen wür-
den. Wir verlernen immer mehr unser altes
Sehen, daß uns die Gesichte finden können.
Das Leben der Künstler ist das Erleben der
neuen Welt.
Als die Künstler der neuen Welt im Jahre
1913 der fremden Welt Berlins in der ersten
Herbstausstellung des Sturm ihre Bilder
zeigten, erhob sich im Publikum und der ge-
samten Presse ein Wutschrei. Das Publi-
kum war aufs tiefste verletzt. Es fühlte sich
in seinen ,,heiligsten Gütern " beleidigt. Man
schimpfte oder versuchte krampfhaft zu
lachen. Genau so die berühmte und unbe-
rühmte Kritik. Viele Kritiker, die heute
nicht laut genug ,,ftir die Geistigkeit der
Kunst eintreten ", haben in wüsten Hetz-
artikeln die Kunstwerke und die Künstler
beschimpft. Manche von diesen Kritikern
nennen sich heute selbst Futuristen und Ex-
pressionisten. Und fast alle entdecken im-
mer wieder neue Futuristen, Kubisten und
Expressionisten. Daß es Künstler gibt, kön-
sie nicht vertragen. Es muß Künstler von
Kritikers Gnaden geben.
Heute sind die drei Worte Futuristen, Ku-
bisten, Expressionisten Schlagworte. Die
Worte haben ihren Sinn verloren. Künstler
haben sie einmal geprägt, um sich von den
zahllosen Nichtkünstlern, die sich Künstler
nennen, zu scheiden. Nachdem diese Schei-
dung vollzogen ist, haben die Nichtkünstler
betriebsam die drei Schlagworte aufgegriffen.
Nun scheiden uns die Worte nicht mehr von
ihnen. Wir sind die Künstler. Nun scheidet
uns nur unser Werk von ihnen. Nun scheidet
uns die Weltwende von unseren ehrlichen
und unehrlichen Widersachern.
Wir werden oft gebeten, die Bilder oder die
Gedichte zu erklären. Das Kunstwerk kann
nicht erklärt werden. Erklärt werden kann
nur das Handwerk. Erklärt werden können
nur die Kunstmittel und ihre Anwendung.
Vom einzelnen Werk kann das Gesetz ab-
gelesen werden, nach dem die rhythmische
Linie und die rhythmische Farbe das Bild ge-
staltet. Wir können sagen, was wir beim
Anblick des einzelnen Bildes gedacht oder
gefühlt haben. Wir können also den Rat-
suchenden erklären, was wir für die Kom-
position des Bildes halten, und können ihnen
unsere Gedanken und Gefühle erklären.
Wir geben den Ratsuchenden etwas von uns
und nichts vom Bild. Wir müssen den Rat-
suchenden sagen, daß sie keinen Rat suchen
sollen. Wir müssen ihnen sagen, daß sie
nur das Bild anschauen dürfen und warten
müssen, ob sie es schauen können. Wer das
Kunstwerk empfangen will, muß willig sein.
Er muß sich dem Kunstwerk hingeben. Er
muß willens sein, auf seinen eigenen Willen
zu verzichten. Er darf nichts fordern von
dem Bild, nichts in ihm suchen, nichts von
ihm ablesen wollen. Es kann ihm nur das
sagen, was er sich selbst sagt. Nur in der
Verneinung ihres Selbst können wir den Rat-
suchenden helfen. Wir können sie nicht
willig machen, ein Kunstwerk zu empfangen.
Aber wir können ihnen helfen, die Hemmun-
gen zu beseitigen, die ihrem Willen, sich hin-
zugeben, entgegenstehen. Wir können ihnen
helfen, zu verlernen. Wer Kunstwerke emp-
fangen will, muß auf seine Bildung verzich-
ten. Der Ballast des Wissens, den wir alle
noch mit uns herum schleppen, verhindert
uns den Ausblick zu den Gesichten, die
uns suchen. Die Intellektuellen müssen
ihren Intellekt preisgeben können, die Wis-
senschaftler ihre Wissenschaft, die Geistigen
ihren ,,Geist" und jeder die Erinnerungen,
die sein Leben füllen. Denn nur, wer sich
bedingungslos preisgibt, wer sich unbedingt
dem Kunstwerk hingibt, empfängt den Preis,
das Kunstwerk zu erleben.
Die Verstandesmenschen meinen, daß das
Kunstwerk eine Aufgabe löse, daß es die
Antwort auf eine Frage gebe. Sie suchen
einen Titel des Bildes und untersuchen dann,
wie weit nach ihrer Ansicht das Bild dem
Titel entspricht. Ehe sie selbst nach einem
Titel suchen, sehen sie im Katalog nach, ob
ihnen der Künstler diese Mühe erspart hat.
Es macht ihnen Kopfzerbrechen, wenn sie
dort nur eine Nummer ats Titel finden, weil
86
setze, die wir an einzelnen Kunstwerken ab-
lesen. Sie sind für diese Kunstwerke Gesetze
der Gestaltung. Sie sind erste Grundsätze,
nach denen die Gegenwart Gesichte gestaltet
hat. Die Grundsätze selbst sind erste Ge-
stalten, die sich im Gesicht künden. Es
scheint, als ob die aufeinander folgenden
Generationen der Gegenwart immer tiefer in
die Welt der Gesichte hineingezogen wür-
den. Wir verlernen immer mehr unser altes
Sehen, daß uns die Gesichte finden können.
Das Leben der Künstler ist das Erleben der
neuen Welt.
Als die Künstler der neuen Welt im Jahre
1913 der fremden Welt Berlins in der ersten
Herbstausstellung des Sturm ihre Bilder
zeigten, erhob sich im Publikum und der ge-
samten Presse ein Wutschrei. Das Publi-
kum war aufs tiefste verletzt. Es fühlte sich
in seinen ,,heiligsten Gütern " beleidigt. Man
schimpfte oder versuchte krampfhaft zu
lachen. Genau so die berühmte und unbe-
rühmte Kritik. Viele Kritiker, die heute
nicht laut genug ,,ftir die Geistigkeit der
Kunst eintreten ", haben in wüsten Hetz-
artikeln die Kunstwerke und die Künstler
beschimpft. Manche von diesen Kritikern
nennen sich heute selbst Futuristen und Ex-
pressionisten. Und fast alle entdecken im-
mer wieder neue Futuristen, Kubisten und
Expressionisten. Daß es Künstler gibt, kön-
sie nicht vertragen. Es muß Künstler von
Kritikers Gnaden geben.
Heute sind die drei Worte Futuristen, Ku-
bisten, Expressionisten Schlagworte. Die
Worte haben ihren Sinn verloren. Künstler
haben sie einmal geprägt, um sich von den
zahllosen Nichtkünstlern, die sich Künstler
nennen, zu scheiden. Nachdem diese Schei-
dung vollzogen ist, haben die Nichtkünstler
betriebsam die drei Schlagworte aufgegriffen.
Nun scheiden uns die Worte nicht mehr von
ihnen. Wir sind die Künstler. Nun scheidet
uns nur unser Werk von ihnen. Nun scheidet
uns die Weltwende von unseren ehrlichen
und unehrlichen Widersachern.
Wir werden oft gebeten, die Bilder oder die
Gedichte zu erklären. Das Kunstwerk kann
nicht erklärt werden. Erklärt werden kann
nur das Handwerk. Erklärt werden können
nur die Kunstmittel und ihre Anwendung.
Vom einzelnen Werk kann das Gesetz ab-
gelesen werden, nach dem die rhythmische
Linie und die rhythmische Farbe das Bild ge-
staltet. Wir können sagen, was wir beim
Anblick des einzelnen Bildes gedacht oder
gefühlt haben. Wir können also den Rat-
suchenden erklären, was wir für die Kom-
position des Bildes halten, und können ihnen
unsere Gedanken und Gefühle erklären.
Wir geben den Ratsuchenden etwas von uns
und nichts vom Bild. Wir müssen den Rat-
suchenden sagen, daß sie keinen Rat suchen
sollen. Wir müssen ihnen sagen, daß sie
nur das Bild anschauen dürfen und warten
müssen, ob sie es schauen können. Wer das
Kunstwerk empfangen will, muß willig sein.
Er muß sich dem Kunstwerk hingeben. Er
muß willens sein, auf seinen eigenen Willen
zu verzichten. Er darf nichts fordern von
dem Bild, nichts in ihm suchen, nichts von
ihm ablesen wollen. Es kann ihm nur das
sagen, was er sich selbst sagt. Nur in der
Verneinung ihres Selbst können wir den Rat-
suchenden helfen. Wir können sie nicht
willig machen, ein Kunstwerk zu empfangen.
Aber wir können ihnen helfen, die Hemmun-
gen zu beseitigen, die ihrem Willen, sich hin-
zugeben, entgegenstehen. Wir können ihnen
helfen, zu verlernen. Wer Kunstwerke emp-
fangen will, muß auf seine Bildung verzich-
ten. Der Ballast des Wissens, den wir alle
noch mit uns herum schleppen, verhindert
uns den Ausblick zu den Gesichten, die
uns suchen. Die Intellektuellen müssen
ihren Intellekt preisgeben können, die Wis-
senschaftler ihre Wissenschaft, die Geistigen
ihren ,,Geist" und jeder die Erinnerungen,
die sein Leben füllen. Denn nur, wer sich
bedingungslos preisgibt, wer sich unbedingt
dem Kunstwerk hingibt, empfängt den Preis,
das Kunstwerk zu erleben.
Die Verstandesmenschen meinen, daß das
Kunstwerk eine Aufgabe löse, daß es die
Antwort auf eine Frage gebe. Sie suchen
einen Titel des Bildes und untersuchen dann,
wie weit nach ihrer Ansicht das Bild dem
Titel entspricht. Ehe sie selbst nach einem
Titel suchen, sehen sie im Katalog nach, ob
ihnen der Künstler diese Mühe erspart hat.
Es macht ihnen Kopfzerbrechen, wenn sie
dort nur eine Nummer ats Titel finden, weil
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