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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 11.1920

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Drittes Heft
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Walden, Herwarth: Künstliche Psychiatrie: Mit einem Kunstbelag
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Schwitters, Kurt: Erweiterung
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https://doi.org/10.11588/diglit.37133#0039
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fehlen, einer Zeitschrift, die zwar nicht
über die Psychiatrie, aber über den Ver-
dacht der Geisteskrankheit erhaben ist. Ich
berufe mich hierfür auf Mohr, gleichfalls
nach Herrn Minden, dem „schwachsinnige
Kritiklosigkeit Beweis für Paranoia" ist.
Herr Minden erklärt für die gesunden Leser
Paranoia = echte unheilbare Verrücktheit.
Wenn die Zeichnung „Es fiel ein Reif in
der Frühlingsnacht" nicht in Reclams Uni-
versum veröffentlicht gewesen wäre, ich
hätte sie auf Grund meiner Lektüre der
Psychiatrie des Herrn Minden für einen
Fall von Katatonie gehalten.
Die hinteren Gliedmassen der dargestellten
Persönlichkeiten gehen verschwommen ne-
belhaft in einander über und sind trotz-
dem deutlich als Gestalten zu sehen. Rechts
oben befindet sich ein Vogel, den zwar
nicht Anna Blume hat, dem aber sichtbar
ein Teil seines Körpers fehlt. Und gar der
Mann hat nur einen halben Kopf. Das lässt
zweifellos auf Ideenflucht schliessen. Ich zi-
tiere zum Beweis Morgenthaler nach Minden:
„Ein Flammen, ein Wallen, ein Flackern,
das Zentrum, von dem diese Bewe-
gung ausgeht ist meist eine Gestalt, zum
Beispiel ein Pfau oder ein menschlicher
Kopf." Es flackert ganz bedenklich ober-
halb des Kopfes der Frau. Und der Stuhl
sieht noch bedenklicher paranoisch aus.
Nach Herrn Minden soll auch die Benen-
nung der Kunstwerke bei Marc Chagall,
Kandinsky und Rudolf Bauer auf Katatonie
hindeuten. Kein Titel deckt sich sozusagen
mit dem Bilde, meint der Herr Minden.
Nun frage ich den unbefangenen gesunden
Leser, der hier zugleich Seher sein muss:
wo ist in Reclams Zeichnung der Reif und
wo die Frühlingsnacht. „Es Hel" kann
man sich allenfalls denken, wenn man
nämlich die sitzende Gestalt als ein Mäd-
chen auffasst, das demnächst vom Stuhle
fallen wird. Es würde hingegen wieder
den Verdacht auf dementia praecox ver-
stärken, wenn man annehmen wollte, dass
der Künstler etwas als Tatsache hinstellt,
was wohl erst einer näheren Zukunft an-
gehört. Meine Deutung scheint auch um
so unwahrscheinlicher, als in einem gesunden
Universum niemals ein Mädchen und ein
Mann in einer Frühlingsnacht zusammen
abgezeichnet werden dürften.
So stehen wir voller Zweifel im Universum.

Herr Minden wird sich noch etwas mehr
in die Psychiatrie und in die Kunst ver-
tiefen müssen, um uns zur eindeutigen
Wahrheit zu verhelfen. So lange wird es
für Herrn Minden wenigstens unentschieden
bleiben, ob ein Einfall von Chagall nicht
amüsanter ist als sein Reinfall in die Psy-
chiatrie. Herwarth Waiden

Erweiterung
Herr Franz Servaes widmete meiner Aus-
stellung von Merz-Bildern im Sturm April
1920 folgende Besprechung:
„Will man sehen, was in Wahrheit ex-
pressionistische Massenerzeugung zu Wege
bringt, so fasse man Mut und besuche jenen
Salon in der Potsdamer Strasse, in dem
sich wie in einem Konzentrationslager die
Schar der Gläubigen zusammendrängt. Hier
wird nicht mehr nach Persönlichkeit und
Begabung, sondern nur nach der Religion
gefragt. Wer den expressionistisch-futuristi-
schen Katechismus brav auswendig gelernt
hat und gläubig nachplappert, wird will-
kommen geheissen, gleichviel ob er Genie
oder Schuster ist. Zur Zeit reisst einer der
ärgsten Schuster dort sein Maul auf (den
Namen erfrage man an Ort und Stelle). Aus
irgend einem Grunde bezeichnet er seine
Exkremente als Merzbilder. Er scheint
Lumpensammler zu sein und hat, was er
auf der Strasse aufgelesen hat, wie alte
Drahtstücke, Kleiderfetzen, Watte oder Werg-
reste, weggeworfene Knöpfe oder Eisenteller,
ja selbst Strassenbahnfahrscheine und Post-
vermerke sinnig zusammengetragen und auf
Bretter oder Pappe geklebt, die er dann
irgendwiemitFarbe angestrichen hat. „Franz
Müllers Drahtfrühling", „Porträt einer alten
Dame", „Tastende Dreiecke", „Rot-Herz-
Kirche", und ähnlich werden dann diese
Stumpfsimpeleien etikettiert und als aller-
neuste Kunst zu Markte gebracht. „Verrückt-
heiten"? Onein. Klarbewusster Unfug, der
leider sowohl „Liebeserklärungen" wie
-Käufer Endet!"
Ich lernte Herrn Servaes zufällig kennen
und habe ihm jetzt folgende Antwort ge-
schrieben :
Ein Interwju (sprich Ausfragung.) mit
Professor Franz Servaes
In einer Ausstellung von Kunstwerken zeigte


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