heit wird man kaum mehr verlangen
können. Nun glaube man ja nicht, dass
ich auf Grund jahrelanger Studien der Au-
toren dieses Gedicht komponiert habe. Ich
nahm nur ganz schlicht eine berühmte
Anthologie und pflückte aus diesem Blumen-
strauss, was mir in den Fingern blieb.
Das Gedicht liesse sich beliebig auf hundert
Strophen verlängern. Und selbst die Herren
Ludwig Fulda und Rudolf Presber wür-
den bei beliebiger Verwendung sich recht
schmuck und klassisch darin ausnehmen.
Für jeden Einsichtigen muss es nach diesem
Schulbeispiel klar sein, dass Stimmung und
Gedanke nichtWesen der Kunst sein können.
Es sind nicht einmal schöpferische Ge-
danken. Sonst hätte Mörike nicht beenden
können, was Heine fortsetzte und Goethe
so herrlich begonnen hat. Diese Dichter
hatten ein gemeinsames Erlebnis, nämlich
ein erotisches, was nichts Ausserordent-
liches ist und auch nicht ausserordentlich
gewesen zu sein scheint. Denn sie erzählen
es mit denselben dürftig gesetzten Worten,
obwohl es sich doch zweifellos stets um
eine andere Dame gehandelt hat. Nun wird
man mir triumphierend einwenden, das
sei eben gerade das Klassische, nämlich
das Allgemeingültige, das Typische. Da
wäre zu bemerken, dass nur das Erlebnis
typisch ist. Nicht aber die Gestaltung.
W enn man aber behaupten will, dass die
Gestaltung dieses Erlebnisses durch Goethe
typisch, also klassisch sei, so wären Heine,
Mörike, Ludwig Fulda, Rudolf Presber und
die andern zehntausend Dichter nicht ein-
mal fähig, ein schlichtes erotisches Erleb-
nis auszusagen, sie wären einfach Nach-
ahmer der grossen Gestaltungskraft Goethes.
Liegt aber eine Gestaltungskraft vor, wenn
andere Leute die Gestaltung zum Verwech-
seln ähnlich nachahmen können. Oder ist es
ein Organismus, dem man beliebig viel
Füsse ausreissen und andre dafür einsetzen
kann, auch wenn es nur schlechte Vers-
füsse sind. Diese Art Kunst scheint doch
auf etwas zu kleinem Fusse zu leben. Und
wenn die goethische Auslegung von dem
Liedchen der Nachtigall Stimmung sein soll,
wohlgemerkt nicht das Liedchen, die Aus-
legung, so muss folgende Strophe desselben
Meistergedichtes „Philine“ ein Gedanke
sein:
Wie das Weib dem Mann gegeben
Als die schönste Hälfte war,
Ist die Nacht das halbe Leben
Und die schönste Hälfte zwar.
Goethe hat hier zwar im Schlaf der Nacht
den Reim auf „war“ gefunden und es
ausserdem verstanden, einen ausgelegten
Gedanken auszulegen. Zwar nimmt die
schönste Hälfte die halbe Hälfte dieser
Strophe ein. Doch ist es immerhin ge-
lungen, den Gegensatz von Weib — Nacht
und Mann — Leben gedanklich herauszu-
arbeiten. Oder hat Goethe etwa den schönen
Gegensatz Tag und Nacht aufgegeben, weil
das Leben dem Geben reimfälliger als der
Tag war. So etwas kann man zwrar bei
Dichtern der Stimmung nicht wissen. Die
Vermutung ist erlaubt, umsomehr, als der
Gedanke von der schönsten Hälfte aus einer
noch klassischeren Zeit stammt. Aber auch
die Lebensweisheit des Altmeisters möchte
ich dem Leser nicht unterschlagen, der
doch durch die schönste Hälfte und die
Nachtigall schon so freudvoll und leidvoll
und gedankenvoll ist. Die letzte Strophe
des Gedichtes heisst:
Darum an dem langen Tage,
Merke dir es liebe Brust;
Jeder Tag hat seine Plage,
Und die Nacht hat ihre Lust.
Das Erstaunliche solcher Strophe ist: man
kann sie beliebig umstellen, und sie geben
immer wieder einen Gedanken.
Zum Beispiel:
Darum an dem langen Tage
Merke dir es liebe Brust,
Jede Nacht hat ihre Plage,
Und der Tag hat seine Lust.
Das ist eben eine andere Auffassung. Man
kann aber auch die Verse vertauschen, ohne
den Organismus zu verletzen:
Darum an dem langen Tage,
Jeder Tag hat seine Plage
Merke dir es, liebe Brust,
Und die Nacht hat ihre Lust.
Oder:
Jeder Tag hat seine Plage,
Und die Nacht hat ihre Lust
Merke dir es, liebe Brust,
Darum an dem langen Tage.
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können. Nun glaube man ja nicht, dass
ich auf Grund jahrelanger Studien der Au-
toren dieses Gedicht komponiert habe. Ich
nahm nur ganz schlicht eine berühmte
Anthologie und pflückte aus diesem Blumen-
strauss, was mir in den Fingern blieb.
Das Gedicht liesse sich beliebig auf hundert
Strophen verlängern. Und selbst die Herren
Ludwig Fulda und Rudolf Presber wür-
den bei beliebiger Verwendung sich recht
schmuck und klassisch darin ausnehmen.
Für jeden Einsichtigen muss es nach diesem
Schulbeispiel klar sein, dass Stimmung und
Gedanke nichtWesen der Kunst sein können.
Es sind nicht einmal schöpferische Ge-
danken. Sonst hätte Mörike nicht beenden
können, was Heine fortsetzte und Goethe
so herrlich begonnen hat. Diese Dichter
hatten ein gemeinsames Erlebnis, nämlich
ein erotisches, was nichts Ausserordent-
liches ist und auch nicht ausserordentlich
gewesen zu sein scheint. Denn sie erzählen
es mit denselben dürftig gesetzten Worten,
obwohl es sich doch zweifellos stets um
eine andere Dame gehandelt hat. Nun wird
man mir triumphierend einwenden, das
sei eben gerade das Klassische, nämlich
das Allgemeingültige, das Typische. Da
wäre zu bemerken, dass nur das Erlebnis
typisch ist. Nicht aber die Gestaltung.
W enn man aber behaupten will, dass die
Gestaltung dieses Erlebnisses durch Goethe
typisch, also klassisch sei, so wären Heine,
Mörike, Ludwig Fulda, Rudolf Presber und
die andern zehntausend Dichter nicht ein-
mal fähig, ein schlichtes erotisches Erleb-
nis auszusagen, sie wären einfach Nach-
ahmer der grossen Gestaltungskraft Goethes.
Liegt aber eine Gestaltungskraft vor, wenn
andere Leute die Gestaltung zum Verwech-
seln ähnlich nachahmen können. Oder ist es
ein Organismus, dem man beliebig viel
Füsse ausreissen und andre dafür einsetzen
kann, auch wenn es nur schlechte Vers-
füsse sind. Diese Art Kunst scheint doch
auf etwas zu kleinem Fusse zu leben. Und
wenn die goethische Auslegung von dem
Liedchen der Nachtigall Stimmung sein soll,
wohlgemerkt nicht das Liedchen, die Aus-
legung, so muss folgende Strophe desselben
Meistergedichtes „Philine“ ein Gedanke
sein:
Wie das Weib dem Mann gegeben
Als die schönste Hälfte war,
Ist die Nacht das halbe Leben
Und die schönste Hälfte zwar.
Goethe hat hier zwar im Schlaf der Nacht
den Reim auf „war“ gefunden und es
ausserdem verstanden, einen ausgelegten
Gedanken auszulegen. Zwar nimmt die
schönste Hälfte die halbe Hälfte dieser
Strophe ein. Doch ist es immerhin ge-
lungen, den Gegensatz von Weib — Nacht
und Mann — Leben gedanklich herauszu-
arbeiten. Oder hat Goethe etwa den schönen
Gegensatz Tag und Nacht aufgegeben, weil
das Leben dem Geben reimfälliger als der
Tag war. So etwas kann man zwrar bei
Dichtern der Stimmung nicht wissen. Die
Vermutung ist erlaubt, umsomehr, als der
Gedanke von der schönsten Hälfte aus einer
noch klassischeren Zeit stammt. Aber auch
die Lebensweisheit des Altmeisters möchte
ich dem Leser nicht unterschlagen, der
doch durch die schönste Hälfte und die
Nachtigall schon so freudvoll und leidvoll
und gedankenvoll ist. Die letzte Strophe
des Gedichtes heisst:
Darum an dem langen Tage,
Merke dir es liebe Brust;
Jeder Tag hat seine Plage,
Und die Nacht hat ihre Lust.
Das Erstaunliche solcher Strophe ist: man
kann sie beliebig umstellen, und sie geben
immer wieder einen Gedanken.
Zum Beispiel:
Darum an dem langen Tage
Merke dir es liebe Brust,
Jede Nacht hat ihre Plage,
Und der Tag hat seine Lust.
Das ist eben eine andere Auffassung. Man
kann aber auch die Verse vertauschen, ohne
den Organismus zu verletzen:
Darum an dem langen Tage,
Jeder Tag hat seine Plage
Merke dir es, liebe Brust,
Und die Nacht hat ihre Lust.
Oder:
Jeder Tag hat seine Plage,
Und die Nacht hat ihre Lust
Merke dir es, liebe Brust,
Darum an dem langen Tage.
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