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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 14.1923

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Sechstes Heft
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Schwitters, Kurt: Au der Welt: "MERZ", [3]
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https://doi.org/10.11588/diglit.47213#0115

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Aus der Welt: „MERZ“
Kurt Schwitters und Franz Rolan
Schluss
Schwitters: Das Problem ist nicht so
schwierig als es scheinen
könnte. Jeder Faktor des
Merzbühnenwerkes ist
schöpferisch tätig innerhalb
seiner Grenzen, muss sich
aber ausserhalb derselben
gefallen lassen, von den
anderen Faktoren als ein-
faches Material verwandt
zu werden. Der Maler ist
als Maler selbständig, aber
er darf nicht vom Dar-
steller eine ihm genehme
Pose verlangen, sondern
muss ihn verwenden, wie
er sich gibt und aus
dem vorhandenen Material
sein Bild bauen. Der Schau-
spieler darf dem Dichter so
wenig ins Handwerk
pfuschen wie der Dichter
ihm. Jeder Faktor ist an
seine Mittel gebunden. So
auch das Publikum. Ihm
stehen drei Mittel zu Gebote,
sich schöpferisch zu be-
tätigen: Der Beifall, die
Entscheidung für das
Kunstwerk, das „Pro“, das
alle Kräfte belebt und an-
feuert, das Schweigen, das
aller Auslegung fällig ist
und zur Vorsicht rät, auf
alle Fälle eine gewisse
Spannung erzeugt, und
endlich das Missfallen, die
Entscheidung gegen das
Dargebotene, das „Contra“,
das ebenfalls als schöpfe-
rische Kraft ausgenutzt
werden muss, weil es durch
Heranführen neuer Mittel
umgestimmt und gewertet
werden kann und umge-
stimmt werden muss. Beim
alten Bühnenwerk wurde
das Publikum genau so wie
alle anderen Faktoren durch

das Dichterwort lahmge-
legt. Beifall oder Miss-
fallen des Publikums
konnten nichts an ihm
ändern. Nicht so beim
Merzbühnenwerk. Beifall
und Missfallen werden in
der Hand des Merzers zu
künstlerischen Gestaltungs-
mitteln. Vor allem das
Missfallen. Denn wenn
auch ein Kunstwerk letzten
Endes den Beifall des Publi-
kums erstrebt, so soll es
doch nicht Sklave seiner
Launen sein. Jeder neue
Gedanke aber löst zunächst
Widerspruch aus und zwar
um so heftiger, je neuer er
ist. Mit dieser Tatsache
muss der Merzer von vorne
herein rechnen und nach
Mitteln suchen, ihm zu be-
gegnen, soweit dies für das
Gesamtkunstwerk nötig ist.
Das ist nicht schwerer als
für den Berufskomiker
Pausen für die Lach-
salven des Publikums zu
machen. Dieses fort-
währende Inbereitschaft-
sein und Zusammenarbeiten
mit dem Publikum aber gibt
dem Werk eine besondere
Frische und Lebendigkeit,
die auf das Publikum zu-
rückstrahlt und es aus seiner
Rolle des blossen Zu-
schauens befreit. So werden
Beifall und Missfallen zu
wichtigen Kunstmitteln,
und selbst unberücksich-
tigte Missfallensäusserungen
können künstlerisch be-
deutsame Faktoren werden,
die für das Gesamt-
kunstwerk von höchstem
Wert sind. Nicht nur der
Merzer als Schöpfer
des Gesamtkunstwerkes,
sondern auch die übrigen
Künstler, der Dichter, der
Maler, der Musiker und
der Schauspieler können
 
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