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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 14.1923

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Zehntes Heft
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Déry, Tibor: Blaue Glasfiguren, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.47213#0188

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Hinter Nebel flog ein alter Leichnam mit
geschlossenen Augen. Geschwaerzte Schwae-
ne schwammen schreiend über der Menge.
Oben war grosses Gedränge. — Sahen Sie
nicht Miss Jackson? — kreischte ein
Säugling, in der linken Hand eine grosse
Schnarre drehend. Ein junger Toter stellte
sich höflich vor. — Ich habe meine Tele-
fonnummer vergessen — sagte er — Berlin-
Lützow . . . aber weiter . . .? Gedunsene
Wasserleichen schwebten wie Luftballons,
welche Schande! — Fernrohr . . . Fern-
rohr! — rief man — für einen Penny kann
man auf die Erde hinunterschauen. —
Jemand ass ein Butterbrot. — Wo sind die
Engel? — fragte die Glasfigur verzweifelt.
— Hier suchen Sie Engel? — sagte eine
Frau. — Kommen Sie denn nicht von der
Erde? —
In der Ferne brummelte noch das Gesicht
des Mondes, plötzlich entstand Klavier-
brausen, der schaukelnde Schatten eines
grossen Elefanten tauchte aus der Tiefe
empor, dieToten zerstieben in alle Richtungen
und die Glasfigur blieb allein im Raum.
Sie griff mit der Hand nach hinten, denn
sie verspürte einen gelinden Stoss in der
Gegend ihres Gesässes.
— Wie viel Zeit haben wir vergeudet? —
sagten die Glasfiguren, als die Älteste zu-
rückkehrte. Ihre Stirne war glanzlos, aus
den Knieen starrten Dornen und die Gebet-
bänder hingen zerbrochen aus ihrem Mund.
Abends bogen sie um die Ecke.
— Bleib stehen — riefen sie — bleib
stehen! —
Sie keuchten müde und sagten: Langer
Weg . . . schwerer Weg . . nicht ermüden
. . nein . .
Der Schatten rollte auf einer Schwefel-
kugel durch die Texasstreet. Ein ver-
führerisches Lächeln hing ihm von den
Pferdezähnen und aus seinen Augen strahlte

die Verehrungswürdige Traurigkeit alter
Jungfern. Er hob den Rock hoch und
kreischte mit dünner Stimme zwischen den
Bogenlampen. Das dauerte drei Jahre.
— Was isst Du? — fragte er eine alte Frau,
die auf der Schwelle sass.
— Nichts! — sagte die alte Frau.
Sie gingen zu zweit weiter. Ein tiefer
Tintenfisch schwamm in den Kanälen,
steckte manchmal seinen Kopf heraus und
schaute mit roten Augen auf das Trottoir.
Auf einer Bank unter einem Baum lag ein
Goldgräber.
— Was isst du? — fragte der Schatten
und tanzte einen leisen Shimmy zwischen
den Sträuchern.
— Nichts! — sagte der Goldgräber, legte
die Hand an die Stirne und bespie die
kieseiige Promenade. Schreiend lief er
ihnen nach. Der Schatten streute Nordlicht
aus seinem Rock zwischen die Menge.
— Was isst du? — fragte er.
— Wenig — sagte der Jäger und trat in
die Reihe. Sie schrieen und die spiriti-
stischen Tische schwebten tänzelnd über
ihren Köpfen.
— Daraus wird grosses Unglück! — sagten
die Glasfiguren und liefen rasch, wie er-
schreckte Lämmer in die Stadt. Der
Schatten hatte schon seit Monaten nichts
gegessen, sein Bauch war rot vor Hunger,
er schaute sich zufrieden seine Herde an
und tat mit der Zunge so: tje-tje. Die
Tierchen horchten erschrocken auf. Vom
Himmel tropfte Speichel. Sie liefen ver-
wirrt herum. Die Wachtfeuer verlöschten.
Es wurde finster. Eine Hyäne und ein
Hund fingen an einen grossen Turm zu
bauen, aber sie konnten ihn nicht beenden.
Im Meer schliefen die elektrischen Fische
ein. Eine Frau gebar ein Kind, das Kind
verheiratete sich, Enkel streichelten seinen
langen Bart, es starb. Alles starb.

Inhalt
Herwarth Walden: Jacoba van Heemskerck
Lothar Schreyer: Erziehung der künstlerischen Kräfte
Herwarth Walden: Der Fall Berliner Tageblatt
Franz Richard Behrens: Friedel, die Deutsche
Harald Landt Momberg: Digte
Rogelio Buendia: Rayos X
Tibor Dery: Blaue Glasfiguren
Moholy-Nagy: Linoleumschnitt / Vom Stock gedruckt
M. H. Maxy: Holzschnitt / Vom Stock gedruckt
Jacoba van Heemskerck: Insel / Gemälde / Vielfarbendruck
Oktober 1923
 
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